Interview mit Schauspieler Tilo Prückner zum Tatort: Sternenkinder

Das Erste: Als der Abschiebehäftling Waputo vor seinen Augen stirbt, wird Holicek unversehens in ein Stück unaufgearbeiteter Vergangenheit katapultiert. Was genau geht da in ihm vor?
Tilo Prückner: Der Holicek hat ein fotografisches Gedächtnis, und jetzt passiert es plötzlich, dass jemand vor seinen Augen stirbt, von dem er weiß, dass er schon einmal gestorben ist. Eine höchst irritierende Situation. Er ist sich ganz sicher, dass dieser Mann schon tot ist, und konnte sich auf sein Gedächtnis bislang immer verlassen, aber diesmal scheinen alle Tatsachen gegen ihn zu sprechen. Das stellt ihn vor eine Zerreißprobe. Das ist ein sehr schwieriger Fall für ihn, da er ganz auf sich gestellt ist, mit allen anderen jedoch in Konflikt gerät. Das ist außerordentlich belastend. Er verrennt sich immer mehr, wird bockig und riskiert sogar die Freundschaft zu Casstorff.

Wir erfahren ganz neue Dinge über Holicek. In einer Szene verrät er dem Kollegen, dass er mal verlobt war. Jetzt, wo Casstorff mit der Wilhelmi liiert ist, fällt noch stärker auf, dass Holicek gar kein Privatleben zu haben scheint. Ist er in dem Punkt etwa auch traumatisiert?
Nein, nein, überhaupt nicht. Ich finde es ja sehr gut, dass sein Privatleben nicht ausgebreitet wird. Man weiß nicht einmal, wo dieser Holicek eigentlich wohnt. Aber es ist keineswegs so, dass er ein Frauenverächter wäre, im Gegenteil, er meint ja sogar, er verstünde mehr von Frauen als Casstorff, weil er mit dessen Wahl nicht einverstanden ist. Die Tatsache, dass damals, vor zwanzig Jahren, seine Beziehung gescheitert ist, zeigt nur, dass dieser alte Fall für ihn sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht eine absolute Katastrophe gewesen ist. Daher auch dieses extreme Verhalten.

Holicek scheint sich immer mehr in eine Parallelwelt zu verstricken – und bleibt darin ganz schön allein. Könnte er vom Kollegen nicht mehr Unterstützung erwarten?
Ja, ein bisschen nimmt Holicek das dem Kollegen schon übel, und überhaupt ist er ja tendenziell eifersüchtig darauf, dass Casstorff der Staatsanwältin so viel Aufmerksamkeit schenkt. Er ist sich sicher, dass der sich mehr um ihn kümmern würde, wenn die Wilhelmi nicht wäre, aber er lässt nicht locker in dem Versuch, den Kollegen immer wieder auf seine Seite zu ziehen.

Zweifelt Holicek an sich selbst, oder ist er sich der Sache mit dem Toten ganz sicher? Offenbar widersprechen ja alle Tatsachen seinem Gefühl ...
Natürlich zweifelt er! Es verunsichert ihn schon stark, dass lauter vernünftige, ernstzunehmende Menschen aus seinem Umfeld ihm nicht folgen wollen und er der Einzige ist, der eine sehr unwahrscheinliche These vertritt. Er verzweifelt ja förmlich, und das tut er vor allem, weil er an sich selbst verzweifelt; deshalb fängt er an zu trinken und völlig unzulässige Dinge zu tun, er weiß sich in dieser Situation keinen Rat. Er ist auf der einen Seite ganz sicher, dass irgendetwas an diesem Todesfall Waputo nicht stimmt, aber gleichzeitig muss er, da ihm keiner folgen will und kann, auch an sich selbst zweifeln. Diese Außenseiterrolle ist sehr schwer für ihn.

Das Changieren Holiceks zwischen Verzweiflung, Wahnsinn und Instinktsicherheit sorgt für Spannung. Man bekommt Angst um ihn, weiß jedoch zugleich, dass Holicek immer für eine Überraschung gut ist und über ein hervorragendes Gespür verfügt ...
Es hat natürlich großen Spaß gemacht, das zu spielen; eigentlich ist es das erste Mal gewesen, dass die Figur Holicek so stark in Erscheinung tritt und in ihrer ganzen Vielschichtigkeit gezeigt wird. Und ich möchte hinzufügen, dass die Zusammenarbeit mit der Regisseurin für mich auch sehr inspirierend war. Ich fand es toll, dass das eine Frau inszeniert hat, denn ich hatte das Gefühl, dass sie einige sehr weibliche, sehr schöne Ideen eingebracht hat.

Zum Beispiel?
Na, diese Szene im Toilettenraum beispielsweise, in der Casstorff seinen derangierten Kollegen kämmt. Das ist ja unglaublich berührend, und ich denke, das konnte nur einer Frau einfallen.

Ist diese Sensibilität also ein Charakteristikum ihrer Arbeitsweise?
Ich würde es so sagen: Sie schafft es, den Szenen eine emotionale Tiefe zu verleihen, und zwar zum Teil auch, indem sie ganz krasse Sachen zulässt, beziehungsweise dazu animiert. Der Holicek macht ja in seiner Verzweiflung zwischendurch ganz merkwürdige Dinge, zum Beispiel als er sich im Büro unvermittelt mit diesem Teil am Rücken kratzt und seine Akten auf den Tisch knallt usw., aber am Ende der Szene ist ganz klar, dass er eigentlich Hilfe und Anlehnung sucht. Das ist emotional toll ausgelotet.

Klingt so, als würde das auch Ihrer Lust, Dinge auszuprobieren und herumzuspielen, entgegengekommen.
Claudia Garde ist wirklich sehr offen in ihrer Arbeit. Ich mache tatsächlich gern viel Blödsinn, und ab und zu kam es vor, dass sie dann, wenn ich Quatsch gemacht habe, plötzlich fragte: Ist das jetzt ein Spielvorschlag? Meinst du das jetzt ernst? Da gab es eine Menge produktiver Missverständnisse zwischen uns.

Die Regisseurin kennt sich aus mit Krimis, sie hat schon einige Tatorte gedreht.
Ja, und dieses Auskennen ist auch wirklich wörtlich zu verstehen. Sie achtet sehr darauf, dass man nichts falsch macht. Es gibt doch zum Beispiel diese Szene, wo ich mit der Pistole herumhantiere und meinen ehemaligen Kollegen im Visier habe. Da war es ihr ganz wichtig, dass ich diese Pistole auch richtig halte, damit es am Ende nicht heißt: Sieht man, dass das eine Frau inszeniert hat. Sie ist da sehr korrekt und gut informiert.

Holicek recherchiert auf eigene Faust, während Casstorff und die Wilhelmi dem Giftmord nachgehen. Ist in dieser Aufspaltung eine zukünftige Entwicklung vorgezeichnet?
Aber nein, die Unstimmigkeiten beschränken sich auf diesen einen, sehr komplizierten Fall, und am Ende hat sich alles wieder eingerenkt. Es gibt ja auch keine offenen Animositäten zwischen Holicek und der Wilhelmi, dazu sind die beiden viel zu professionell. Und die beiden Kommissare sind ja schon immer sehr gegensätzlich angelegt. Der Casstorff ist der Rationale, der Hanseatische, der Gutmensch, während Holicek der quere Typ ist, der aus dem Bauch heraus operiert und den Chef immer ein wenig konterkariert.

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