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Der rätselhafte Kindermord

Grab
Der Mord bleibt lange Zeit ein großes Rätsel. | Bild: Photos.com

Das hatte es bisher noch nicht gegeben. Ein Kind verschwindet. Spurlos. Mitten im aufblühenden Deutschland der 60er Jahre. Fünf Tage später, am 18. Februar 1964, meldet sich ein Erpresser bei den verzweifelten Eltern. Er schickt einen Schlüssel für ein Schließfach im Frankfurter Hauptbahnhof. Man findet einen Kinderschuh – den Schuh eines verschwundenen siebenjährigen Jungen.

Was anfängt wie ein amerikanischer Kriminalroman ist deutsche Kriminalgeschichte. Der Fall erschüttert die junge Republik. Täglich gibt es neue Schlagzeilen. Die gesamte Bevölkerung nimmt Anteil und wird zur Mithilfe aufgerufen. In den Schaufenstern sind Puppen ausgestellt, die die Sachen des Kindes tragen.

Das Medieninteresse nimmt bis dahin unbekannte Ausmaße an. Die Eltern werden in ihrer Wohnung in Wiesbaden belagert und verfolgt. Eine Zeitung will den Jungen sogar von den Entführern 'freikaufen'. Ohne Erfolg. Es melden sich nur Trittbrettfahrer. Über 500 Spuren verfolgt die Polizei; alle enden in einer Sackgasse. In ihrer Rat- und Hilflosigkeit bietet die Staatsanwaltschaft den Entführern sogar freies Geleit an, wenn sie das Kind unversehrt zurückbringen – erfolglos.

Parallelen zur Lindbergh-Baby-Entführung

Der Fall bleibt ein Rätsel. Beobachter aus Amerika sehen schon Parallelen zu der mysteriösen Lindbergh-Baby-Entführung. In der DDR wird der Fall aufwändig verfilmt. Die Eltern des Opfers sind 1960 aus 'der Zone' geflohen. Republikflüchtlinge, die im Westen ihr Glück gesucht und nun ihr Kind verloren haben. Schlagender Beweis für die Verderbtheit des Klassenfeindes. Genug Stoff, um auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs wilde Spekulationen zu schüren: Handelt es sich um einen Racheakt? Wurde das Kind in die Zone entführt? Die Eltern durchleben ein Martyrium. Ihr Leid wird im Kalten Krieg hemmungslos ausgenutzt. Traumatische Erfahrungen, die sich bis heute auswirken. Die Eltern des Opfers leben zurückgezogen und lehnen jeden Kontakt mit Medien und Öffentlichkeit ab. Zu deren Schutz verzichtet diese Dokumentation "Der rätselhafte Kindermord" auf jede konkrete Namensnennung der Familie.

"Quick" erhält ein anonymes Angebot

Im Mai 1967 kommt neue Bewegung in den Fall. Drei Jahre und drei Monate nach der Tat führt Spur 573 endlich zum Fahndungserfolg: Die Zeitschrift "Quick" erhält ein anonymes Angebot. Für 15.000 DM will ein Unbekannter Beweisstücke vorlegen, die seine Täterschaft an der Entführung belegen. "Quick" kooperiert mit der Polizei. Die Leiche des kleinen Jungen wird schließlich keine 500 Meter vom Elternhaus entfernt in einem Keller gefunden. Der Täter kommt aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Die Eltern haben nun die traurige Gewissheit, dass ihr Kind ermordet wurde. Der Fall scheint endlich aufgeklärt.

Doch vieles bleibt verstörend und rätselhaft. Der Täter, ein 26-jähriger Arztsohn, legt nie ein vollständiges Geständnis ab. Ein Motiv wird nicht ermittelt, genauso wenig wie der genaue Tathergang. Im Aufsehen erregenden Prozess plädiert der Staatsanwalt auf Mord aus Heimtücke. Das Urteil: Lebenslänglich. Das befriedigt zwar die Empörung an den Stammtischen, lässt aber juristische Fragen offen. 1981 wird die große Strafrechtsreform verabschiedet, in deren Folge "lebenslang" nicht mehr unbegrenzte Haftstrafe bedeutet. Vier Jahre später wird der Kindermörder von Wiesbaden in die Freiheit entlassen.

Christel Schmidt rekonstruiert den rätselhaften Kindermord und beleuchtet die zeitgeschichtlichen Hintergründe dieses spektakulären Verbrechens, das auch nach bald vier Jahrzehnten noch immer nicht bewältigt ist. Die Dokumentation zeigt auf eindringliche Weise, dass ein Kriminalfall zwar gelöst, aber damit noch lange nicht wirklich aufgeklärt und schon gar nicht emotional abgeschlossen sein kann.

Film von Christel Schmidt (HR)

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Mo., 21.10.02 | 21:45 Uhr
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