SENDETERMIN Do., 20.07.17 | 05:00 Uhr

Milliardengrab Autobahn: Warum neue Autobahnen saniert werden müssen

Zwei Modellfiguren, die Bauarbeiter darstellen, stehen auf einer Landkarte, die das Autobahnnetz um Berlin zeigt.
Ferienzeit ist Baustellenzeit. | Bild: Imago

Auf der A14 zwischen Leipzig und Halle geht es derzeit an manchen Stellen oft nur stockend voran. Oder gar nicht. Eine Fahrtrichtung wird gerade neu gebaut und ist darum für Monate gesperrt. Ein ähnliches Bild zeigt sich unter anderem auch auf der A2 bei Berlin oder der A9 in Richtung München. Und das mitten in der Ferienzeit.

Ärgernis mit Ansage

Insgesamt 85 Autobahnkilometer sind im Moment zur Komplettsanierung gesperrt – obwohl sie erst nach der Wende neu gebaut wurden. Ein Ärgernis mit Ansage sei das, findet Dr. Gerhard Hempel. Hempel war Mitarbeiter der DDR-Bauakademie und erforscht die Ursache seit mehr als 30 Jahren:

"Das wäre nicht nötig gewesen, wenn von Anfang an nicht nach dem westdeutschen Vorschriftenwerk, sondern nach unseren Erfahrungen und Ergebnissen gebaut worden wäre."

Wenn die Straße mürbe wird

Ein Mann in orangefarbener Warnweste hockt auf einer Autobahn-Fahrbahn und zeigt auf Risse im Belag.
Uwe Langhammer, der Präsident der Straßenbaubehörde Sachsen-Anhalt, zeigt die Risse, durch die der Betonkrebs sichtbar wird. Darunter wird die Fahrbahn morsch und mürbe. | Bild: Mitteldeutscher Rundfunk

Worum es konkret geht, zeigt Uwe Langkammer, der Präsident der Straßenbaubehörde Sachsen-Anhalt, am Beispiel eines Teilstücks der A14, das 17 Jahre nach seiner Eröffnung wieder abgerissen werden muss. Experten bezeichnen die Ursache als Alkali-Kieselsäure-Reaktion, der Volksmund spricht von "Betonkrebs". Sichtbar wird er in zunächst unscheinbaren Rissen in der Betonfahrbahn, die sich nach einem gewissen Ablauf der Alkali-Kieselsäure-Reaktion zeigen.

Unter diesen Rissen ist es aber noch viel schlimmer, denn hier wird die Betonfahrbahn über Meter morsch und mürbe, erklärt Uwe Langkammer:

"Letztendlich zerstört sie sich nach einer gewissen Zeit vollständig. Damit ist die Autobahn eigentlich nicht mehr befahrbar."

Mit immer größer werdenden Rissen, wächst auch die Gefahr. Betonbrocken können abplatzen und Autos treffen. Von Schlaglöchern ganz zu schweigen.

Nur im Osten

Karte mit Autobahnen in Ostdeutschland
Nur Autobahnen im Osten sind betroffen. Hier müssen insgesamt rund 650 Kilometer Richtungsfahrbahn ausgetauscht werden | Bild: Mitteldeutscher Rundfunk

Auf westdeutschen Autobahnen ist Betonkrebs bisher nicht aufgetreten. Dafür aber auf fast allen nach der Wende gebauten Hauptverkehrsachsen Richtung Berlin. Unterschiedlich lange Teilstücke von acht verschiedenen Autobahnen sind betroffen. Insgesamt müssen rund 650 Kilometer Richtungsfahrbahn ausgetauscht werden.

Betonkrebs ist das Ergebnis einer chemischen Reaktion zwischen Zement und Kies. Sie tritt auf, wenn das Material besonders alkalireaktiv ist. Genau solcher Kies wurde beim Aufbau Ost in Massen verbaut. Dabei war man eigentlich gewarnt, und zwar durch Dr. Gerhard Hempel:

"Ich hörte während der Fahrt im Auto, dass die A14 von Halle nach Magdeburg weitergebaut werden soll. Da bin ich sofort etwas erschrocken wegen der früheren Erfahrungen mit Schadensbauwerken in der Gegend."

Kein neues Problem

Tatsächlich gab es Betonkrebs schon in den 1970er-Jahren. An vielen Plattenbauten der DDR und auch einigen Brücken in Westdeutschland. Als Ursache wurde zunächst Kies aus norddeutschen Steinbrüchen ausgemacht. Dessen Verwendung für Betonbauten wurde dann sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland verboten.

Doch wenig später trat Betonkrebs auch an Bahnschwellen der Deutschen Reichsbahn auf. Sie waren allerdings mit Kies aus südlichen Regionen der DDR gebaut worden. Hier kam Dr. Hempel ins Spiel. Zwischen 1983 und 1985 war er maßgeblich daran beteiligt, ein Prüfverfahren zu entwickeln, mit dem Kies auf die Betonkrebsgefahr getestet werden konnte. Auf einer Liste wurden 93 Beispiele aufgeführt und erklärt, welche gegenüber der Alkali-Kieselsäure-Reaktion beständig und welche unbeständig sind.

Frühzeitig gewarnt

Ein älterer Mann steht auf einer Autobahnbrücke. Unten befindet sich eine Baustelle, über die ein Baufahrzeug rollt.
Dr. Gerhard Hempel wusste, welche Kiesarten zu Betonkrebs führen. Frühzeitig hat er vor der Gefahr gewarnt. Doch seine Hinweise wurden ignoriert – ein teurer Fehler!  | Bild: Mitteldeutscher Rundfunk

Als nach der Wende der Autobahnbau begann, schrieb Dr. Hempel sofort Warnungen an verschiedene Behörden. Das Bundesverkehrsministerium reagierte und schrieb 1992 an die DEGES, die für den Großteil des Autobahnbaus verantwortlich war, Dr. Hempels Prüfverfahren sei auch im Fahrbahnbau anzuwenden und geeignet, Schäden abzuwehren. Das Ministerium empfahl, von seiner langjährigen Erfahrung Gebrauch zu machen.

Die DEGES, eine von allen Bundesländern und dem Bund gemeinsam für Bauprojekte der deutschen Einheit gegründete Gesellschaft, ignorierte das. Noch heute teilt sie mit, es hätte keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte für drohende Schäden gegeben.

Nach westdeutscher Norm weitergemacht

Ein Baufahrzeug fräst auf einer Autobahn den Belag weg. Ein anderes nimmt den Schutt auf.
Noch nicht einmal 20 Jahre nach ihrer Fertigstellung, müssen viele Autobahnabschnitte komplett weggefräst und neu gebaut werden.  | Bild: Mitteldeutscher Rundfunk

Trotz Warnung baute die DEGES weiter Fahrbahnen und Brücken strikt nach westdeutscher Norm, die lediglich norddeutsche Gesteine ausschloss. Von den in Mitteldeutschland vorhandenen Risiken wusste man nichts – oder wollte nichts wissen. Bis 1996 eine Brücke unmittelbar nach dem Bau Schäden zeigte. Von Hand ließen sich Betonbrocken herauslösen. Dr. Hempel wurde als Gutachter gerufen und diagnostizierte Betonkrebs. Der hier verwendete Kies war bereits getestet und als unbeständig eingestuft worden.

Doch die DEGES wollte davon immer noch nichts wissen und baute weiter strikt nach westdeutscher Norm. Und so kam es, wie es kommen musste. Heute sind hunderte Autobahnkilometer marode. Sie müssen abgerissen und neu gebaut werden.

Milliardenschaden durch ignorierte Warnung

Aber warum hat die DEGES selbst nach Auftreten erster Schäden die Warnung ignoriert? Warum hat sie weiter nur nach westdeutscher Norm geprüft, in der die ostdeutschen Kies-Gesteine nicht vorkamen? Die DEGES will dazu kein Interview geben und gibt uns auch keine schriftliche Antwort.

Trotzdem ist der Schaden da. Wir haben die betroffenen Bundesländer gefragt, wie viel die Sanierung insgesamt kosten wird. Die Aufwände summieren sich auf eine Milliarde Euro – eine Milliarde Steuergelder, weil konkrete Warnungen ignoriert wurden.

Auch Brücken betroffen

Ein älterer Mann steht unter einer Autobahnbrücke und betrachtet deren Unterseite.
Dr. Gerhard Hempel sieht auch bei den Brücken über kurz oder lang Baubedarf.  | Bild: Mitteldeutscher Rundfunk

Nur Bauunternehmen können sich freuen. Sie haben damals auftragsgemäß nach gültiger westdeutscher Norm gebaut und insofern keine Schuld. Nun dürfen dieselben Firmen ihre Bauwerke wieder abreißen und noch einmal bauen. Und es wird nicht allein bei den Betonfahrbahnen bleiben, denn auch Brücken sind betroffen. Zwar sind deren Unterseiten weniger der Feuchtigkeit ausgesetzt, die den Betonkrebs beschleunigt. Dadurch schreitet die Alkali-Kieselsäure-Reaktion aber lediglich etwas langsamer voran. Dr. Gerhard Hempel weiß, dass das die gleichen Folgen hat:

"Das bedeutet, dass früher oder später die Brücke durch Netzrissbildung und Ausplatzungen so desolat wird, dass sie neu gebaut werden muss."

So werden Autofahrer noch viele Jahre lang Betonkrebsbaustellen ertragen müssen und viele Steuer-Euro für die Behebung der Schäden ausgegeben werden. Obwohl alles von Anfang an vermeidbar gewesen wäre.

Autor: Michael Houben

Stand: 16.07.2019 07:38 Uhr