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China: Land der Live-Streamer

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China: Land der Live-Streamer | Bild: NDR

Mehr als eine Million Chinesen haben ihre eigene Show im Internet. In allen Ecken des Landes treten sie vor die Handykameras. Sie singen, tanzen – zeigen, was sie so alles können. Eine muntere Talentshow. Andere präsentieren ihren Alltag auf dem Land, was sie Essen, was sie lustig finden. Alle hoffen auf möglichst viele Zuschauer. Live-Streaming ist in China eine Volksbewegung. Für die einen ist es ein Spaß, andere hoffen auf Ruhm und Geld.

"Ich will mein Potenzial austesten"

Schreibtische Agentur für  Live-Streamer
Agenturen betreuen die Live-Sreamer. | Bild: NDR

Linlin arbeitet in Peking an ihrer Karriere als Live-Streamerin. Sie steht noch ganz am Anfang. Die 22-Jährige hat in Singapur Management studiert. Zurück in China arbeitete sie in einem Staatsunternehmen, sah für sich dort aber keine Perspektive. "Ich will nicht von meiner Arbeit eingeengt sein, ich genieße meine Freiheit. Live-Streaming ist eine neue Industrie, ich will es versuchen und mein Potenzial austesten", sagt sie.

Ihre Traumfabrik ist eine Agentur in Peking, eine von vielen. Tür an Tür gibt es kleine Studios. Die Firma hat rund 9.000 Live-Streamer unter Vertrag, die von hier oder von zu Hause aus eine möglichst große Fan-Gemeinde aufbauen sollen.

Linlin konnte bei einem Vorsprechen überzeugen und geht nun jeden Tag von 11 bis 17 Uhr auf Sendung. Zwar besuchen über 200 Millionen Chinesen Live-Streaming-Plattformen, doch bislang gucken bei ihr nur etwa 1.000 zu. Sie antwortet auf Textbotschaften, plaudert über Alltagsthemen, singt – selbst beim Essen bleibt sie auf Sendung.

Verdienst von 6.000 Euro und mehr im Monat

Live-Streamer
Xinxin gehört zu den Stars der Szene. | Bild: NDR

Als Anfängerin verdient sie kaum etwas, anders als Xinxin. Er ist ein Star der Branche mit über eine Millionen Fans. Er wollte nach dem Studium in die Modeindustrie, war Barsänger, dann versuchte er es mit Live-Streaming, um mehr zu Geld verdienen. "Als ich anfing, benahm ich mich unnatürlich, viele mochten mich nicht, ich hatte wenig Fans. Dann haben meine Freunde gesagt, ich soll einfach ich selber sein. Seitdem läuft es super", erzählt Xinxin.

Der 25-Jährige ist lustig, immer gut drauf. Er hat eine eigene tägliche Sendung und tritt auch als Gast bei anderen Live-Streamern auf. Eine Mitarbeiterin verfolgt auf dem Handy, was ihm an digitalen Geschenken von den Fans zufliegt, denn so verdient er Geld. Das können zum Beispiel digitale Rennwagen, Rosen oder Ringe sein, die einfachen kosten weniger als einen Euro, aber es gibt auch welche für mehrere 100 Euro. Bei Xinxin ist die Sendung noch verknüpft mit dem Online-Handel. Küchengeräte, Lebensmittel und andere Produkte, über die er redet, können auf der App gleich in den Warenkorb und nach Hause geliefert werden. So ist in wenigen Jahren eine Milliardenschwere Industrie entstanden. Erfolgreiche Live-Streamer verdienen 6.000 Euro und mehr im Monat, einige Top-Stars sind Millionäre geworden. Die meisten kommen jedoch gerade so über die Runden.

Agenten betreuen Live-Streamer

Linlin
Linlin hofft auf eine Karriere als Live-Streamerin. | Bild: NDR

Linlin wird von ihrem Agenten Zhang Siyuan beobachtet, der ihr schon während der Sendung Tipps gibt. Die Agenturen verdienen an jedem digitalen Geschenk mit und helfen daher ihren Live-Streamern, sich besser zu verkaufen: "Für eine Karriere als Live-Streamer brauchen vor allem Frauen ein gutes Aussehen, und sie brauchen kommunikative Fähigkeiten. Männer sollten auch gut aussehen, aber ihr Live-Streaming muss vor allem lustig sein. Sie brauchen Humor", erklärt Zhang Siyuan.

Wer dem Schönheitsideal nicht ganz entspreche, kann hübscher gemacht werden, erklärt Agent Zhang. Ein digitaler Filter macht die Unterkiefer schmaler, die Haut glatter, die Augen größer. Auch Linlin sieht auf dem Bildschirm etwas anders aus.

Zensurapparat schaut zu

In den Live-Streams kommt das Volk ins Gespräch. Aber Chinas gigantischer Zensurapparat sorgt dafür, dass nichts gesagt, geschrieben oder aufgeführt wird, was der Kommunistischen Partei missfallen oder zu obszön sein könnte. Wo die verbreitete Selbstzensur nicht reicht, blocken Mitarbeiter und Software-Programme kritische Schlüsselwörter und Chats. Mehrere Plattformen wurden schon geschlossen. Die Führung in Peking unterstütze dennoch das Live-Streaming, meint Manager Kelvin, die Industrie schaffe Arbeitsplätze. Aber rote Linien dürften nicht überschritten werden, auch nicht von den Fans: "Die Leute auf den Plattformen kümmern sich in der Regel nur um Spiele, die Unterhaltung, die verschiedenen persönlichen Darbietungen. Sie betrachten sie niemals als politisch, das ist das Entscheidende. Anders gesagt, berühre keine Sachen wie Politik, Religion oder Pornografie."

Chinas Staatsmedien fordern noch stärkere Kontrollen, weil einige Aufführungen immer waghalsiger werden: Ein 26 Jahre alter Extrem-Kletterer starb beim Sturz vom 62. Stock eines Wolkenkratzers. Er drehte eines seiner vielen Selfie-Videos.

Langer Atem für eine Fangemeinde nötig

Live-Streamer in China
In allen Ecken Chinas treten Menschen vor die Handykameras. | Bild: NDR

Lebensgefahr sucht Linlin nicht. Sie will die Leute zum Lachen bringen. Nach mehreren Stunden ist sie erschöpft, Manöverkritik mit ihrem Agenten. Sie muss auch lernen mit Beleidigungen umzugehen. Nicht alle Zuschauer sind nett. "Wenn jemand sagt, ich sei hässlich, sage ich, mit seinen Augen müsse etwas nicht stimmen und er solle zum Augenarzt gehen bis er mich schön findet, denn dann sind die Augen wieder in Ordnung. So ähnlich reagiere ich auf solche Kommentare, also leicht ironisch."

Agent Zhang zeigt ihr eine andere Live-Streamerin, von der sie sich etwas abgucken könnte. Noch dynamischer und positiver soll Linlin sein, um mehr Reaktionen vom Publikum zu bekommen. Mit ihrer ersten Live-Streaming-Woche sind sie dennoch ganz zufrieden. Viele Stars brauchten auch mindestens ein Jahr, um eine große Fangemeinde aufzubauen. Das macht Linlin Mut. Die meisten Live-Streamer geben allerdings irgendwann auf und verschwinden von der Bildfläche so schnell, wie sie gekommen sind. Kein Wunder – bei der großen Konkurrenz.

Autor: Mario Schmidt, ARD Studio Peking

Stand: 02.08.2019 00:27 Uhr

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