Interview von Jürgen Osterhage mit Dr. Mitu Khurana

Mitu Khurana ist eine Ärztin, die seit Jahren den Kampf gegen die Abtreibung weiblicher Föten führt. Sie selbst sollte von ihren Schwiegereltern zur Abtreibung ihrer weiblichen Zwillinge gezwungen werden.

Osterhage: Frau Khurana, können Sie uns sagen, wann alles begann.

Mitu Khurana
Dr. Mitu Khurana verklagte ihren Mann wegen Mordversuchs an ihren ungeborenen Mädchen. | Bild: BR

Dr. Khurana: Begonnen hat es mit Bedrohungen und höheren Mitgiftforderungen. Dann, nachdem ich schwanger wurde, drängten sie mich zu einer Geschlechtsbestimmung der Ungeborenen. Unrechtmäßig wurde diese Untersuchung durchgeführt – und dann versuchten sie, mich zur Abtreibung der weiblichen Föten zu zwingen. Es folgten weitere Bedrohungen und Belästigungen. Mindestens ein Zwilling sollte abgetrieben werden.

Osterhage: Können Sie uns etwas über Ihre Wohnsituation und Ihre Schwiegereltern erzählen?

Dr. Khurana: Es war ein normales dreistöckiges Gebäude. Zwei Zimmer pro Stockwerk. Mein Mann und ich bewohnten das obere Stockwerk. Sie sind absolut gegen Töchter eingestellt. Das wurde nach dem Bekanntwerden meiner Schwangerschaft sehr deutlich. Sie sagten mir immer wieder, dass sie die Mädchen direkt nach der Geburt umbringen würden, sollte ich sie austragen. Einfach so. Sie versuchten, mich im schwangeren Zustand die Treppe hinunterzustoßen, nachdem sie wussten, dass ich Mädchen erwartete.

Osterhage: Wie war das? An welche Gefühle erinnern Sie sich in dem Haus und zu dieser Zeit?  

Dr. Khurana: Ich fürchtete mich. Ich wollte nicht meine Töchter töten. Eher würde ich mit ihnen sterben. Ich fühlte mich hilflos. Es war ein Kulturschock für mich. Ich habe noch eine Schwester und meine Eltern haben uns nie vermittelt, dass sie lieber Söhne gehabt hätten. Wir haben beide eine gute Schulbildung erhalten, sind Ärztinnen geworden. Für mich war es ein Kulturschock.

Osterhage:  Wie ist die Situation zur Abtreibung von weiblichen Föten in Indien?

Dr. Khurana: Sehen Sie, das gibt es seit den 1970er Jahren. Davor fanden weibliche Kindstötungen statt. Wenn ein Mädchen geboren wurde, wurde sie in einer Milchschüssel ertränkt. Oder in ein nasses Tuch gewickelt und in die Kälte gelegt – so dass sie wahrscheinlich sterben würde. Oder sie wurde mit Getreidehülsen erstickt. Eine sehr grausame Arten zu töten. Nach der Einführung der Ultraschalluntersuchung in Indien gab es einfachere Wege, weniger blutige.

Und erst 1991, nach Abschluss einer Volkszählung, wurde die Regierung auf eine eine starke Abnahme der Anzahl von Mädchen aufmerksam. Zu Beginn glaubten sie, es läge daran, dass Mädchen in den Familien oft nicht mitgezählt würden. Als Beispiel: Wenn sie zu einer Familie gehen und nach der Anzahl der Kinder fragen, werden sie nur die Anzahl der Söhne genannt bekommen. Sie würden ihre Töchter als Kinder nicht mitzählen. Wie gesagt, zu Beginn dachte die Regierung, dass daran die geringere Anzahl von Mädchen liegen würde. Sie wiederholten die Zählung und wandten sich an die Krankenhäuser, um die Anzahl der Geburten pro Geschlecht zu ermitteln. Da erst wurden sie (die Regierung) darauf aufmerksam. Die Zahlen waren sehr verstörend und sehr verdreht.

Daraufhin wurde 1994 der Prenatale Geschlechtsbestimmungstest verboten und 1996 dazu ein Gesetz erlassen. Aber leider hat das so gut wie keine Auswirkungen. 2001 wandten sich einige NGOs mit diesem Thema an das Oberste Gericht. 2003 wurde vom Obersten Gericht bestätigt, dass der Staat die erlassenen Gesetze kaum berücksichtigt.

Osterhage: Warum wollen die Eltern in Indien keine Töchter?

Dr. Khurana: Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer der Gründe ist die Mitgift. Sobald eine Tochter geboren ist, müssen die Eltern anfangen auf die Mitgift zu sparen. Von Geburt an. Dabei kann es sich manchmal um einen sehr hohen Geldbetrag handeln. Wenn sie einen Sohn geboren haben, können sie das entspannt sehen. Sie werden ja die Mitgift bekommen. Das ist die eine Sache.

Zweitens: Wenn du eine Tochter bekommst, sie fütterst, großziehst, ihr Schulbildung-Ausbildung ermöglichst – sobald sie verheiratet ist, wird sie zum Eigentum des Mannes und der Schwiegereltern. Auch wenn ein Paar nur Töchter hat, die gut verdienen – nach der Hochzeit können sie nicht mehr ihre Eltern unterstützen. All ihr verdientes Geld geht zu ihren Schwiegereltern. Es fehlt also auch eine Absicherung im Alter, wenn du nur Töchter hast. Das sind einige der Gründe, warum Menschen immer noch denken, sie sollten mindestens einen Sohn haben.

Osterhage: Ich sehe all diese Papiere. Seit Jahren führen Sie Gerichtsverhandlungen. Was sind Ihre Erfahrungen?

Dr. Khurana: Meine Erfahrung ist, dass die staatlichen Autoritäten genauso patriachale Strukturen haben wie die Gesellschaft um mich herum. Irgendwo in ihrem Inneren denken sie, dass ich die Übeltäterin bin. Ich bin die Kriminelle, die ihre Schwiegereltern vor das Gericht zerrt – in einer Sache, die als so unglaublich normal angesehen wird. Es ist hier völlig normal: die Sehnsucht nach einem Sohn. Wenn ich also meine Schwiegerfamilie anklage, denken sie, dass ich falsch bin. Das habe ich schon so oft gehört.

Ich habe mehr als drei Jahre mit Mediation und Councelling verbracht, weil sie mich wieder mit meinem Ehemann zusammenführen wollten – und ich ihm dann seinen Wunsch nach einem Sohn erfüllen kann – und meine Anzeige zurückziehe. Ich habe Letzterem nicht zugestimmt, da haben sie gesagt, ich sei diejeniege die ihren Ehemann schikaniert.  

Osterhage: Was heißt das für ihr Land – Ihre Erfahrung – Ihr Horror?

Dr. Khurana: Nachdem ich die Anzeige erstattet habe – bekam ich einen Schock. Alle Statements, die (von Politikern) vor den Medien gegeben wurden, waren nur für die Medien. Nichts darüber hinaus. Tatsächlich ist nichts passiert. Niemand wurde verhaftet – und selbst wenn es mal eine Verhaftung gab, wurde der Angeklagte wieder aus scheinheiligen Gründen freigelassen. Es gibt keine Bestrafung. Es gibt keine Angst vor dem Gesetz. Jeder weiß das.

Es gab mal zwei bis drei Fälle, in denen Ärzte, die pränatale Geschlechtsbestimmung durchführten, geschnappt wurden. Sie kamen auf Kaution frei. Der Fall schleppte sich fort – und dann wurden sie wieder geschnappt – mit einer noch viel größeren Anzahl von durchgeführten Tests.

Osterhage: Dieser ganze Kampf. Warum?

Dr. Khurana: Sehen Sie – ich bin eine Ärztin. Ich heiratete in eine gut ausgebildete Mittelklassefamilie. Wenn mir so etwas passieren kann, wie kann ich sicher sein, dass meinen Töchtern nicht Ähnliches wiederfährt? Meine Eltern dachten, dass der einzige Schutz ihrer Töchter aus einer guten Bildung bestehen würde. Und das ist ja auch das Höchste, was Eltern tun können. Aber es hat mich nicht schützen können.

Wie kann ich also meine Töchter schützen? Ich möchte ihnen eine bessere Welt geben – eine Welt, in der es mehr Sicherheit, Schutz und mehr Gleichheit für Frauen gibt. Das ist der Grund für meinen Kampf. Ich möchte, dass meine Töchter in einer besseren Welt aufwachsen, ich möchte ihnen ein besseres Indien übergeben.

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