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Irak: Der Mann, der ein IS-Massaker überlebte

Ali Hussein Kadhim
Ali Hussein Kadhim | Bild: Bild: BR

Ali Hussein Kadhim:

»Das bin ich. Ich bin mir zu 100 Prozent sicher; nein ich bin mir sogar zu 1000 Prozent sicher.«

Im Juni massakrierten ISIS-Rebellen tausende von Rekruten. Das ist die unglaubliche Geschichte von Ali Hussein Kadhim. Er ist der einzige bekannte Überlebende.

Ali Hussein Kadhim:

»Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Wir haben nichts: Keine Arbeit, keinen Lohn, kein Land. Deshalb ging ich zur Armee.«

Ali meldete sich als Freiwilliger am 1. Juni diesen Jahres. Er wurde im Camp Speicher – ehemals Militärlager der USA – stationiert. Es liegt in der Nähe von Tikrit, etwa zwei Stunden nördlich von Bagdad.

Nur 12 Tage später lag er auf einem Feld zwischen Leichen und wartete auf den tödlichen Kopfschuss.

Die New York Times hat seine Geschichte überprüft anhand von Zeugenaussagen, anhand eines Berichtes von Human Rights Watch und anhand von Filmmaterial von dem Massaker, das ISIS online gestellt hat.

Wir zeigen Ali die Videos: Seit Ende letzten Jahres hat ISIS – bekannt als Islamischer Staat – gewaltsam mehr und mehr Gebiete erobert. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch zu Alis Stützpunkt vorstoßen würden.

Ali Hussein Kadhim:

»Wir wussten, dass sie auch zu uns kommen würden. Um die Moral unserer Truppen war es nicht gut bestellt.«

Die Rekruten versuchten zu fliehen

Ali Hussein Kadhim:

»Wir zogen die Uniformen aus, bevor wir das Lager verließen.«

Aber es war zu spät. ISIS war schon da.

Ali Hussein Kadhim:

»Etwa 100 von ihnen kamen auf uns zu. Sie sagten: "Wir tun Euch nichts. Wir bringen euch zu euren Familien." Aber sie haben uns reingelegt. Sie haben uns auf Autos aufgeladen und sind losgefahren. Wir konnten uns nicht wehren. Auf jedem ihrer Wagen standen zwei, drei Bewaffnete. Wenn du dich bewegtest, wurdest du erschossen.«

Eine Reihe von Menschen marschiert eine Straße entlang
Die Rekruten marschieren als Gefangene des IS | Bild: Bild: BR

Später mussten sich die Rekruten aufreihen und öffentlich zur Schau stellen. Sie marschierten in ihren Tod. Sie wurden in Dutzende von Transportern verladen. Einige, die untern lagen, sind auf dem Transport erstickt.

Ali Hussein Kadhim:

»Die Leute ganz unten sind schon tot. Ich schwöre, die kamen so heraus – mit schlaffen Armen, tot. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie wiesen uns an, unsere Regierung zu verfluchen; wir sollten sagen, dass unser Premier Maliki für all das verantwortlich ist.«

Einige Transporter hielten in den Feldern, andere am Flussufer. Alle erwartete dasselbe Schicksal.

Ali Hussein Kadhim:

»Das war meine Gruppe - ich bin nicht mit im Bild. Jeder musste sich am T-Shirt des Vormanns mit den Zähnen festhalten. "Beiß zu, beug dich runter und lauf." Wir mussten uns so hinsetzen: im Todessitz. Eins, zwei, drei – ich war der vierte in der Reihe. Als ich mich umwandte, sah ich, dass der erste einen Kopfschuss hatte. Das Blut schoss heraus. Ich dachte, das ist das Ende für mich. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Ich musste an meine Familie denken. Ein schlimmes Gefühl: Wer wird für sie sorgen? Was wird nun aus Ihnen?«

Ali Hussein Kadhim:

»Er erschoss den ersten, den zweiten, den Dritten und dann kam er zu mir. Ich schwöre, er hat geschossen. Aber ich weiß nicht, wohin die Kugel ging. Der Mann links von mir fiel zu Boden und der Mann rechts von mir fiel um. Da war Blut auf mir und ich fiel auch um. Mein Kopf lag so, der Mund offen, blutbeschmiert, überall Fliegen um mich rum. Dann habe ich dieses Auge geöffnet. Und ich kann mich jetzt noch an seinen Schuh erinnern. Dann wurde es dunkel.«

Stunden nachdem der letzte Schuss gefallen war, stand Ali auf – mitten in der Nacht. ISIS hatte einen Wachposten auf der Westseite des Flusses. Und Ali sah seine einzige Chance darin, auf die andere Seite zu flüchten.

Ali Hussein Kadhim:

»Ich bin Richtung Fluss gelaufen, mit gefesselten Händen – so. Aber so richtig laufen konnte ich nicht.«

Und noch eine Hürde für Ali: Er wusste, dass die starke Strömung des Flusses direkt auf den ISIS-Wachposten zulief. Dann bemerkte er jemanden am Flussufer.

Ali Hussein Kadhim:

»Da sah ich einen Mann aus dem Wasser kriechen. Er war selbst tödlich verwundet, konnte sich kaum bewegen. Aber er konnte meine Handfessel mit einer Muschel durchtrennen.«

Die nächsten drei Tage pflegte Ali den Verwundeten am Flussufer.

Ali Hussein Kadhim:

»Er wollte nichts essen. Wenn ich einen Wurm fand, riss ich ihm den Kopf ab und hab ihn gegessen. Am dritten Abend hab ich mir gesagt: "Jetzt muss ich auf die andere Seite rüber." Er sagte: "Gott sei mit dir. Vergiss mich nicht und erzähle den Leuten, was passiert ist."«

Eine Karte des Gebiets, aus dem Ali Hussein Kadhim floh
Karte des Gebiets, aus dem Ali Hussein Kadhim floh | Bild: Bild: BR

Ali schwamm durch den ruhigen Kanal auf die Insel. Aber die Strömung auf der anderen Seite war immer noch zu stark. Deshalb ging er flussaufwärts und versuchte es dort.

Ali Hussein Kadhim:

»Ich habe es drei oder vier Mal versucht, aber die Strömung zog mich immer wieder zum ISIS-Wachposten zurück. Ich bin nicht so durch den Fluss geschwommen, sonst hätten sie mich gesehen. Ich hatte das Wasser nur bis da, hab nur die Beine bewegt.«

Schließlich hat er es geschafft, aber die andere Flussseite war ein Gebiet der Sunniten, so wie ISIS auch. Ali, ein Schiite, hatte Angst, dass sie ihn ausliefern würden. Aber der erste, den er traf, gab ihm zwei Tomaten, ein Stück Brot, und eine Warnung:

»Wenn du da lang gehst, töten sie dich. Wenn du hier bleibst, töten sie dich. Wenn du die Brücke nimmst, töten sie dich. Du bist tot, so oder so.«

Ali ging weiter. Er hatte Angst, an die falsche Tür zu klopfen. Er war auf ISIS-Gebiet. Aber allein, und fast verhungert, musste er die einheimischen Sunniten um Hilfe bitten.

Ali Hussein Kadhim
Ali Hussein Kadhim | Bild: Bild: BR

Ali Hussein Kadhim:

»Aber sie waren anständige Sunniten, nicht wie die ISIS. Ich bin drei Tage geblieben, dann erfuhr die ISIS von mir. In der dritten Nacht kamen sie mich suchen, mit Autos und Motorrädern. Aber sie wussten nicht, in welchem Haus ich war. Am Morgen brachte mich die Familie nach Al-Aham.«

Mit der Hilfe von Fremden und über vier Stationen gelangte er nach drei Wochen endlich nach Hause.

Ali Hussein Kadhim:

»Meine zweijährige Tochter hat mich nicht wiedererkannt und ist schreiend weggerannt. Und dann brach ich zusammen.«

Autoren: Mike Shum, Greg Campbell, Adam B. Ellick, Mona El-Naggar / New York Times, Übersetzung: Markus Schmidt und Isabel Schayani, ARD-New York

Stand: 13.09.2014 15:10 Uhr

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