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Japan: Der Tierretter von Fukushima

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Japan: Der Tierretter von Fukushima | Bild: BR

Die Ampel springt auf Grün. Aber niemand überquert die Straße. Kein Fußgänger, kein Auto.

Die Häuser zerfallen, die Fenster zersprungen.

Tomioka – eine radioaktiv verseuchte Geisterstadt. Menschenleer und verlassen.

Naoto Matsumura
Naoto Matsumura | Bild: Foto: BR

Nur ein einziger harrt unverdrossen in der Sperrzone aus. Seit drei Jahren: der Bauer Naoto Matsumura. Der letzte Mensch von Fukushima.

Naoto Matsumura:

»Alle sind damals abgehauen. Und alle gleichzeitig. Es gab einen riesigen Stau. Manche haben sich Sorgen gemacht. Die dachten, sie schaffen es nicht mehr raus. Die hatten keinen Sprit mehr im Tank. Innerhalb von ein paar Tagen, war die ganze Gegend wie ausgestorben.«

Auch Naoto Matsumura ist vor dem Atomunfall geflohen. Aber keiner wollte ihn aufnehmen, den Verstrahlten aus Fukushima. Nicht mal die eigene Familie.

Da ist Naoto Matsumura wieder zurück in die Todeszone. Zurück zu seinen Kühen.

Der Schädel eines toten Rinds
Der Schädel eines toten Rinds | Bild: Foto: BR

Dies hier sind die letzten Tiere, die noch in der Sperrzone leben. Viele andere, Hühner, Schweine, Hunde sind qualvoll gestorben.

Naoto Matsumura:

»Ich bin durch die Nachbarschaft gelaufen. Dann habe ich die ersten Hunde gesehen. Sie haben gebellt. Sie hatten nichts zu essen und nichts zu trinken. Also habe ich ihnen zu Fressen gegeben. Beim nächsten Haus waren wieder Hunde und die Nachbarn daneben hatten auch ihre Hunde zurückgelassen. Die ganze Stadt war voller Tiere. Alle waren zurückgelassen worden.«

Fukushima-Daiichi – die strahlende Atomruine liegt nur 12 Kilometer entfernt von Naoto Matsumuras Heimatort.

Etwa 100.000 Menschen haben in ganz Fukushima ihr zu Hause verloren, 16.000 allein in Tomioka.

Wie hoch ist die Strahlung hier? Fünf bis sechs Mikrosievert pro Stunde! Viel zu viel, um hier zu leben.

Trotzdem ist er geblieben, Naoto Matsumura. Als einziger. Als könnte ihm all die Strahlung überhaupt nichts haben.

Naoto Matsumura:

»In Tokio haben sie mich auf radioaktive Strahlung untersucht. Ich habe gefragt: 'Na, wie war’s?‘ Da haben sie mich nur angeguckt und gesagt: 'Wir hatten noch niemanden, der so hoch verstrahlt ist. Du bist der Champion, der Verstrahlteste von allen!‘ Aber ich solle mir keine Sorgen machen. Merken würde ich das frühestens in 30 Jahren.«

Neben seinen 60 Kühen, die er mithilfe von Spenden durchfüttert hat Naoto Matsumura zwei Vogelstrauße und drei Hunde. Einen hat er halbtot in der Nachbarschaft gefunden, angeleint, hungrig kläffend. Naoto Matsumura hat den Hund Kiseki genannt. Japanisch für Wunder.

Auch ein paar Katzen sind da. Gemeinsam haben sie sich eingerichtet im neuen, einsamen Leben.

Ein Kleinbus auf einer Straße
Ein Kleinbus auf einer Straße | Bild: Foto: BR

Matsumura besitzt ein Handy. Nur selten ruft jemand an. Es gab lange keinen Strom, kein elektrisches Licht, keinen Fernseher. Er lebt vom Quellwasser aus den Bergen und vom Essen aus der Dose. Einmal die Woche fährt er zum Einkaufen in die Stadt außerhalb der Zone.

Naoto Matsumura:

»Wissen Sie, früher waren hier alle arm. Die Schulkleidung hatte Löcher, da haben die Mütter dann einen Aufnäher drüber genäht und fertig. Und dann kam die Atomkraft. Plötzlich hatte jeder ein Auto. Oder zwei oder drei. Das war ganz normal. In den Städten ohne AKW, da fuhren alle Leute noch diese Schrottkisten. Aber wir waren auf einmal wirklich reich.«

Von dem schönen Leben ist nichts geblieben, findet Naoto Matsumura.

Der AKW-Betreiber Tepco und auch der Staat – von beiden wurden die Menschen belogen. Und wie gefährlich die Atomkraft wirklich ist, niemand in Tomioka habe es geahnt.

Naoto Matsumura:

»Ich war einmal hier, da waren viele Tiere schon verhungert. Eine Mutter und ihr Kalb lebten noch, total abgemagert. Das Kalb wollte an die Zitzen der Mutter, aber die Mutter hatte ja keine Milch mehr. Sie hat das Kalb immer wieder mit den Beinen weggetreten. Das ging ein, zwei, drei Mal so. Dann hatte das Kalb verstanden. Ein paar Tage später waren beide Tiere tot.«

Der Ozean, eine schroffe Küste mit meterhohen Wellen, die sanften Hügel, die Tannen, das Gras: Fukushima hat landschaftlich viel zu bieten. Aber die Katstrophe hat auch hier tiefe Spuren hinterlassen.

Die Behörden wollen das Unglück am liebsten ungeschehen machen. Aufwendig haben sie Straßen, Häuser, Felder dekontaminiert. Häufig vergebens.

Halde mit verstrahlten Abfällen
Halde mit verstrahlten Abfällen | Bild: Foto: BR

Jetzt gammelt der Atommüll in Plastiksäcken vor sich hin, unter freiem Himmel, fast bis zum Horizont, alles voll mit strahlendem Abfall.

Naoto Matsumura:

Wie gefährlich das Leben hier ist, keiner macht sich das bewusst. Sollen hier etwa irgendwann wieder Kinder leben? Ich werde allerdings bleiben. Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen. Ich möchte hier in meiner Heimat sterben.

Heimat bedeutet den Menschen hier viel. Die meisten Familien haben seit 20 Generationen in Fukushima gelebt. Oder länger. Naoto Matsumura ist der einzige, der übrig geblieben ist. Trotz der Atomruine in Reichweite – Tomioka, die Geisterstadt, soll sein Zuhause bleiben!

Autor: Philipp Abresch, ARD Tokio

Stand: 15.04.2014 10:45 Uhr

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Naoto Matsumura kommt nach Europa

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Bayerischer Rundfunk
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