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Kambodscha: Waisen, die keine sind

Das miese Geschäft mit dem Waisenhaustourismus

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Kambodscha: Waisen, die keine sind | Bild: BR

Man hat ihnen beigebracht, die Herzen der Touristen zu erobern: Kinder in kambodschanischen Waisenhäusern.

Viele Touristen kommen mit den besten Absichten. Doch aus gut gemeinter Hilfe ist inzwischen ein trauriges Geschäft geworden.

Dies ist die Reise durch ein Land, in dem Kinderlachen zu Geld gemacht wird.

Meine Recherche beginnt in der Hauptstadt Phnom Penh. Ein Tuk Tuk-Fahrer bietet mir seine Dienste an. Er hat nicht nur das alte Foltergefängnis der Roten Khmer im Programm, sondern auch einen Besuch im Waisenhaus!

»"Ja, ich fahre auch zu Waisenhäusern. Die kann man besichtigen. Da gibt es viele Kinder. Und man kann schöne Fotos machen!" Tuk Tuk-Fahrer«

Große Kinderaugen statt Königspalast? Also fahre ich zu einem Waisenhaus am Stadtrand von Phnom Penh.

»"Der Tuk Tuk- Fahrer sagte uns, es sei überhaupt kein Problem, dort einfach aufzuschlagen. Eine Anmeldung sei nicht erforderlich. Alles, was wir mitbringen müssten, sei eine Tüte Reis und dann könnten wir mit den Kindern spielen und Fotos von ihnen machen." Norbert Lübbers«

Schülerinnen mit Kindern
Schülerinnen mit Kindern | Bild: Foto: BR

Wir sind nicht die einzigen Gäste. Eine Gruppe von Oberstufenschülern aus Frankreich ist für einen Tag zu Besuch. Das Programm: Zöpfe machen, Kuscheln und Lachen. Was auffällt: Die Kinder sind ungewöhnlich zutraulich. Und als Andenken gibt es tolle Fotos auf Facebook für die Freunde zuhause!

Ich gebe mich als Tourist aus und will herausfinden, wie das Geschäft mit den Waisen funktioniert.

Sie sind geschminkt und herausgeputzt: Waisenkinder als Touristenattraktion. Die traditionelle Tanzshow soll die Herzen öffnen … und den Geldbeutel. Zehn bis 20 Dollar lässt jeder Besucher hier. Viel Geld in Kambodscha. Doch kommt es wirklich den Kindern zugute?

Norbert Lübbers mit dem Direktor des Kinderheims
Norbert Lübbers mit dem Direktor des Kinderheims | Bild: Foto: BR

Der Direktor zeigt mir das Heim. Er ist verantwortlich für das Wohl von 100 Kindern. Unterstützung vom Staat erhält er nicht. Ihren Unterhalt müssen die Kinder selbst verdienen.

»"Die Kinder tanzen nicht nur hier, um Spenden zu sammeln. Wenn sie gut genug sind, treten sie auch in Restaurants und Hotels auf. Wir fahren sie dorthin und erhalten die Spende." Der Direktor«

"Eins, zwei, drei – Foto!“ Die französischen Schüler verabschieden sich. Die Kinder haben sich gerade an die neuen Freunde gewöhnt, da sind die auch schon wieder weg. Ein tränenreicher Abschied. Für die Touristen ein einmaliges Erlebnis - für die Kinder bitterer Alltag.

Ich schaue mich währenddessen auf dem Gelände um: Von Betreuern keine Spur. Keiner stellt Fragen. Keiner will meine Personalien wissen. Ich lerne Wung Sen kennen. Sie lebt seit fünf Jahren hier. Und sie berichtet mir, dass die meisten Kinder noch Mutter oder Vater haben, sie selbst sogar noch beide Eltern.

»"Ich vermisse sie sehr. Wir Kinder dürfen nur zweimal im Jahr nach Hause." Wung Sen«

»"Warum lebst Du hier? Warum haben Deine Eltern Dich hierher geschickt." Norbert Lübbers«

»"Weil meine Eltern arm sind und nicht genug Geld haben, um die Schulgebühren zu zahlen." Wung Sen«

Waisen, die noch Eltern haben? Wie ist das möglich? Bei der Organisation SISHA erfahre ich, dass Dreiviertel der Kinder in Kambodschas Waisenhäusern zumindest noch einen Elternteil haben.

Eric Meldrum
Eric Meldrum | Bild: Foto: BR

SISHA versucht gemeinsam mit den Behörden die Häuser zu schließen, in denen Kinder vernachlässigt und benutzt werden. Ein langer und zäher Kampf!

»"Das ist ein Geschäft geworden. Viele der illegalen Waisenhäuser besorgen sich ein paar Kinder von der Straße oder von wo auch immer, pferchen sie sie zusammen und behaupten, dass es Waisenkinder sind. Dann laden sie gutherzige Touristen ein, stellen die süßen Kinder zur Schau und treiben das Geld ein. Aber wo geht es hin? Zu den Kindern? Wahrscheinlich nicht!“ Eric Meldrum, Menschenrechtsorganisation SISHA«

Mehr als 500 Waisenhäuser gibt es inzwischen in Kambodscha. Gut die Hälfte ist nicht offiziell registriert. Ich will wissen, wie die illegalen Häuser an die Kinder kommen.

In diesem Heim leben 40 Kinder. Der Direktor gibt auf Nachfrage offen zu, dass sie aus acht verschiedenen Provinzen kommen. Dann zeigt er mir seinen Ordner. Für jedes Kind besitzt er eine Art Überlassungsurkunde. Mit einem Daumenabdruck haben die Eltern das Schicksal ihrer Kinder besiegelt.

»"Ich schicke dieses Formular zu den Eltern, zum Vater oder zur Mutter. Dann bringen sie die Kinder hierher und überschreiben sie mir. Ich bestätige das dann mit Stempel und Unterschrift!“ Der Direktor«

»"Viele Kambodschaner sind arm. Und wenn da ein angeblicher Wohltäter sagt, er würde dem Kind eine gute Ausbildung, Essen und eine Unterkunft geben und ihnen diese Last abnehmen, dann sind einige Eltern bereit, ihre Kinder wegzugeben.“ Eric Meldrum, SISHA«

Brittenie
Brittenie | Bild: Foto: BR

Die Ausbildung müssen freiwillige Helfer aus aller Welt leisten. Unterrichten darf hier fast jeder. Qualifikation Nebensache.

Studentin Brittenie aus Kanada ist über eine internationale Vermittlungs-Agentur hierhergekommen. Den Flug plus 1000 Dollar Gebühr hat sie dafür gezahlt. Mittlerweile hat sie herausgefunden, dass nicht einmal 100 Dollar davon an das Waisenhaus geflossen sind. Jetzt zahlt sie vor Ort weiter.

»"Vor ein paar Wochen habe ich ihnen 200 Dollar für Essen gegeben. Das habe ich gern gemacht. Andere Freiwillige haben Lebensmittel und Stifte besorgt. Letzte Woche habe ich noch viele Medikamente gekauft. Denn der Erste Hilfe-Kasten hier ist ehrlich gesagt das Letzte!“ Brittenie, Freiwilligenhelferin aus Kanada«

In den acht Waisenhäusern, die ich auf meiner Reise besuche, ähneln sich die Bilder. Die Spenden kommen nicht dort an, wo sie am nötigsten gebraucht werden: Diese Toilette teilen sich 30 Jungen. In diesem Verschlag schlafen 40 Kinder auf Holzbetten ohne Matratzen.

In dieser Küche gibt es vor allem ein Gericht: Reis mit Nudeln. Das macht vielleicht satt - mehr aber auch nicht.

Mädchen in einem Heim
Mädchen in einem Heim | Bild: Foto: BR

Wir haben Kinder gesehen, denen es an fast allem fehlt - eine Generation, die ohne Familie aufwachsen muss und den Touristen trotzdem zulächelt!

Brittenie
Brittenie | Bild: Foto: BR

Endstation Waisenhaus? Dabei gibt es andere Lösungen. In Battambang, im Nordwesten Kambodschas, treffen wir die Australierin Tara Winkler. Vor acht Jahren kam auch sie als freiwillige Helferin. Entsetzt musste sie feststellen, dass es in ihrem Waisenhaus vor allem um Profit, nicht aber um das Wohl der Kinder ging.

Sie ist trotzdem geblieben. Heute leitet die 27-Jährige eine Organisation, die sich um 200 Kinder kümmert. Mit einem Netzwerk von Kindergärten und Jugendzentren vor Ort in den Slums, bei den Familien.

»"Das größte Problem ist, dass Kinder mit Eltern in Waisenhäusern landen. Diese Kinder gehören in ihre Familie. Dabei sollte das Waisenhaus die letzte Option sein. Für uns Hilfsorganisationen heißt das, dass wir die Kinder in ihrem natürlichen Umfeld unterstützen müssen!“ Tara Winkler, Cambodian Children’s Trust«

Mit ihrer Organisation hat sie es geschafft, 14 Kinder aus einem Waisenhaus zu befreien. Unter ihnen: Sinet und ihre Schwester. Die beiden jungen Frauen hatten sich Tara Winkler anvertraut. Ihr vom Alltag im Waisenhaus erzählt, dann wenn die Touristen nicht da sind, vom Hunger, der Gewalt und dem Missbrauch.

»"Ich konnte nie schlafen. Jede Nacht hatte ich so eine Angst, dass der Direktor zu mir kommt und mich wieder in sein Zimmer zwingt. Wenn ich mich geweigert habe, hat er zugeschlagen!“ Sinet Chan«

Unglaublich, dass Waisenhaus, in dem Sinet vergewaltigt wurde, es ist noch immer geöffnet. In der Obhut des Direktors leben jetzt 20 Kinder. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.

Sinet versucht die Vergangenheit hinter sich zu lassen, nach vorne zu schauen, wieder Spaß zu haben. Sie selbst sagt, sie habe ein neues Leben gewonnen. Ein Leben, in dem sie nicht mehr für Spenden und Almosen lächeln muss.

Autor: Norbert Lübbers / ARD Singapur

Weitere Informationen

Natürlich sind nicht alle Waisenhäuser in Kambodscha unseriös. Unser Autor Norbert Lübbers hat eine Checkliste für Besucher und Touristen aufgestellt:

Ein Waisenhausbesuch steht bei vielen Kambodscha-Touristen auf dem Programm. Ob es in dem Waisenhauswirklich um das Wohl der Kinder geht, ist für die Besucher oft nur schwer zu erkennen. Wenn Touristen oder freiwillige Helfer folgende Punkte beachten, sollten sie sich umgehend an eine Menschenrechtsorganisation wie SISHA wenden:

  • Das Waisenhaus ist nicht offiziell registriert.
  • Das Waisenhaus hat keine eigenen Kinderschutz-Richtlinien.
  • Es gibt nicht ausreichend Betreuer für die Kinder.
  • Die sanitären Einrichtungen sind mangelhaft.
  • Das Essen ist nicht ausgewogen und nahrhaft.
  • Mädchen und Jungen schlafen in gemeinsamen Schlafräumen.
  • Die Personalien der Besucher und freiwilligen Helfer werden nicht überprüft.
  • Touristen haben unbeaufsichtigt Zugang zu den Kindern
  • Es gibt Anzeichen von Gewalt, Missbrauch oder Menschenhandel.

Wenn freiwillige Helfer oder Touristen Zeugen von Missbrauch oder Gewalt werden, können Sie sich an die Menschenrechtsorganisation SISHA in Kambodscha wenden:
SISHA Notfall-Hotline: +855-17-382-877 (in Englisch und Khmer) http://www.sisha.org

Weitere Informationen auch bei Tara Winkler Cambodian Children’s Trust http://www.cambodianchildrenstrust.org

Stand: 15.04.2014 11:05 Uhr

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