So., 12.09.21 | 23:40 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt: "Die Anomalie" von Hervé Le Tellier
"Ohne Zweifel Weltliteratur" urteilt Denis Scheck über den nun endlich ins Deutsche übersetzten Roman des Franzosen Hervé Le Tellier. Der wagt ein Gedankenexperiment: Was, wenn es von uns allen Doppelgänger gäbe?
Denis Scheck sagt: "Stellen Sie sich vor, es gäbe Sie plötzlich zweimal. Ja, richtig: von einer Sekunde auf die andere wären Sie plötzlich zu zweit. Sie und Ihr Zwilling lebten in ein und derselben Welt – mit denselben Erinnerungen, denselben Fingerabdrücken, denselben Narben.
Das ist das Gedankenspiel, das Hervé Le Tellier in seinem grandiosen Roman "Die Anomalie" unternimmt. Der Ausgangspunkt: Flug Air France 006 von Paris nach New York gerät am 10. März dieses Jahres in einen Jahrhundertsturm. Der Pilot schafft es, trotz aller Widrigkeiten die Boeing 787 sicher auf dem Flughafen JFK zu landen. Doch 106 Tage später taucht dieselbe Maschine mit denselben Passagieren und derselben Besatzung wieder am Himmel über New York auf … Und damit ist ein geniales Tableau geschaffen für einen Roman, der gleichermaßen spannend wie profund von den Konsequenzen dieser Verdoppelung erzählt. Was bedeutet die Anwesenheit der Duplikate politisch – aber auch philosophisch und theologisch? Sind wir vielleicht nur Programme, die beliebig vervielfältigt werden können? Leben wir am Ende in einer gigantischen Computer-Simulation?
"Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind", lässt Hervé Le Tellier eine seiner Figuren Friedrich Nietzsche zitieren. Mit "Die Anomalie" hat er in Frankreich den prestigeträchtigsten Literaturpreis Prix Goncourt gewonnen. Ohne Zweifel ist dieser Roman Weltliteratur."
Stand: 12.09.2021 17:46 Uhr
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