So., 09.10.22 | 23:50 Uhr
Das Erste
Fremd in New York
Bestsellerautorin Sigrid Nunez mit einem berührenden deutsch-chinesischen Familienroman
Der Vater arbeitet immer nur, in den Restaurants von Chinatown, und spricht kaum, die Mutter jammert, putzt und träumt sich zurück in die alte Heimat, die wohl irgendwo im Nachkriegsdeutschland ist, und das Geld reicht nie in dieser ungemütlichen Sozialwohnung: Kein guter Start für ein Mädchen mit Ambitionen. Oder eben gerade doch? Sigrid Nunez gelang es mit ihrem ersten Roman, aus Tristesse große Poesie zu machen.
"Wir müssen ihm so fremd erschienen sein wie er uns. Für ihn müssen wir immer 'andere' gewesen sein. Frauen. Dämonen. Nicht anders als andere Dämonen, die einen Asiaten nicht vom anderen unterscheiden konnten, die meinten, chinesisches Essen sei Chopsuey und chinesische Bräuche seien Stoff für Witze. Ich müsste viel älter werden, und er müsste sterben, bevor mir der ganze Horror ins Bewusstsein drang. Und dann drang er tief ein, qualvoll wie ein Pfeil, der sein Ziel trifft."
Einen Menschen beobachten, beschreiben, ausloten, analysieren, ihn so erzählen, dass er sichtbar wird, auch mit allem Verborgenen, Ungesagten, mit seinen Leidenschaften, Ängsten, Träumen, das kann Sigrid Nunez. Und sie schreibt dabei über Vater, Mutter, über ihre ganze Familie doch immer so liebevoll, dass wir uns jederzeit vorstellen können, dass die Betroffenen, bei allen Abgründen, die sich ständig auftun, einverstanden sein könnten mit dem, was sie da lesen. Das ist nun nicht unbedingt ein literarisches Kriterium. Aber eines für tiefe Menschlichkeit. Für Wahrheit. Schönheit. Und somit eben doch: für eine unvergleichliche Geschichte!
Sigrid Nunez, geboren 1951 in New York, unterrichtete kreatives Schreiben an verschiedenen amerikanischen Universitäten und wurde 1995 mit "Eine Feder auf dem Atem Gottes" bekannt. 2018 erhielt sie den National Book Award.
Stand: 09.10.2022 16:28 Uhr
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