Martina Zöllner über den Film

rbb-Programmbereichsleiterin Doku und Fiktion

Martina Zöllner
Edgar Selge, Martina Zöllner und Matthias Brandt im Lichthof des Hauptgebaeudes der TU Berlin. | Bild: picture alliance / POP-EYE / Christian Behring

Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" erschien in Frankreich im Januar 2015 – einen Tag vor dem mörderischen Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris. Wegen der Veröffentlichung des Romans hatte Charlie Hebdo Houellebecq sein Titelbild gewidmet. Nach dem Anschlag brach Michel Houellebecq seine Promotion-Tour für das Buch ab. Die Realität, so schien es, hatte seine literarische Fiktion eingeholt.

In "Unterwerfung" beschreibt Houellebecq das Frankreich im Jahr 2022 zur Zeit der Präsidentschaftswahl. Bürgerkriegsähnliche Unruhen zwischen Rechten, Muslimen und der Identitären Bewegung sind an der Tagesordnung; die müde gewordenen Medien berichten darüber kaum noch. Der gemäßigte muslimische Politiker Mohammed Ben Abbes hat erstaunlichen Zulauf. Um Marine Le Pen und den rechten Front National zu verhindern, gehen die Konservativen wie die Sozialisten mit ihm ein Bündnis ein. Ben Abbes wird Staatspräsident, er ändert die Verfassung, führt das Patriarchat, die Scharia und die Polygamie ein.

All dies wird erlebt aus der Perspektive von François (Edgar Selge), Literaturwissenschaftler an der Sorbonne, mittelalt, als Wissenschaftler mittelmäßig, alleinstehend mit wechselnden Verhältnissen zu Studentinnen, dem Alkohol zugeneigt. Er verliert seine Anstellung – doch er kann an die Universität zurückkehren unter einer Bedingung: Er muss zum Islam übertreten.

Das Bild einer tief gespaltenen Gesellschaft

Halb Satire, halb Dystopie zeichnet Houellebecq das Bild einer tief gespaltenen Gesellschaft – und deren liberal-bürgerlicher Klasse, die arrogant und gleichgültig geworden, die Situation verdrängt, bei gutem Wein und Essen über die Verhältnisse räsonniert, ohne sich wirklich auseinanderzusetzen, und schließlich ihre Freiheit verspielt – zentrale europäische Errungenschaften wie die Gleichstellung der Frau. (Für mich die gespenstischste Erfahrung bei der Lektüre der "Unterwerfung": Wie die Frauen aus dem öffentlichen Leben verschwinden – und niemand regt sich darüber auf, auch Houellebecqs Protagonistinnen nicht.) Der westliche Liberalismus ist auf den Hund gekommen. Die provokante These, die in Houellebecqs Versuchsanordnung steckt: Das aufgeklärte, säkularisierte Individuum wird zum Opfer seiner Möglichkeiten – familiäre und soziale Zusammenhänge zerfallen, Bindungen gibt es nicht mehr. Die Moderne ist am Ende, und mit ihr der "alte weiße Mann", eine bestimmte Form chauvinistischer Männlichkeit. Wer François erlebt, darf auch an Weinstein denken. Doch das Frauenbild des Islam, so eine weitere Provokation Houellebecqs, ist nicht weniger chauvinistisch.

Ein islamfeindliches Buch?

In Frankreich ist Michel Houellebecq ein Skandalautor, seine Bücher haben immer wieder zu heftigen Kontroversen geführt, auch "Unterwerfung". Der Roman wurde von einigen als islamfeindliches Buch gelesen. Ein falsches Verständnis in meinen Augen. In Teilen islamkritisch, mag sein – islamophob nein. Ist doch die islamische Religion, Religion überhaupt, so spielt es Houellebecq durch, vielleicht sogar die bessere Alternative. Auf der Suche nach spiritueller Nahrung landet François in einem Kloster auf dem französischen Land und findet doch seine Ruhe nicht. Am Ende, so sieht es jedenfalls aus, wird er zum Islam konvertieren, aus Opportunismus und Gier nach Wertschätzung, verführt vom charismatischen neuen Rektor der Sorbonne, Rediger (Matthias Brandt). Eine große Faust-Mephisto-Szene. Und wir sind tief verstört.

"Unterwerfung" führt uns die europäische Identitätskrise drastisch vor Augen. In Zeiten von steigendem Rechtspopulismus und zunehmender gesellschaftlicher Spaltung auch in Deutschland zeigt uns Michel Houellebecq, was wir zu verlieren haben.

Wir im rbb haben daher nicht gezögert, den Vorschlag des Regisseurs Titus Selge und der Produktionsfirma NFP* aufzugreifen und Houellebecqs beklemmendes Szenario für ein deutsches Fernsehpublikum aufzubereiten – als ein formal ungewöhnlicher Fernsehfilm, der die gefeierte Hamburger Inszenierung der "Unterwerfung" in der Regie Karin Beiers verbindet mit dem Roman nachempfundenen Filmszenen. Die Zusammenarbeit mit Autor und Regisseur Titus Selge, mit Produzent Clemens Schaeffer und mit Edgar Selge gehört zu den besten Erfahrungen, die ich als Redakteurin gemacht habe, und ich möchte mich für das konstruktive Miteinander sehr bedanken. Ausdrücklichen Dank auch an Kameramann Martin Farkas und Cutter Knut Hake, der die verschiedenen Ebenen des Films zu einem so stimmigen Ganzen verwoben hat.

Wir laden die Zuschauerinnen und Zuschauer herzlich ein, am Gedankenexperiment "Unterwerfung" in der Primetime des Ersten teilzuhaben – und den großartigen Edgar Selge zu erleben, der uns mit auf die Reise nimmt.

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