Interview mit der Drehbuchautorin Katrin Bühlig

"Ich möchte mit diesem Tatort die Menschen in den Fokus rücken, die jeden Tag aufopferungsvoll ihre Angehörigen pflegen"

Szene aus dem Film: Oliver Lessmann misstraut dem Pflegpersonal seiner Frau. (v.l.: Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix), Oliver Lessmann (Jan Krauter), Pflegekraft Grashina Kowalski (Maria M. Wardzinska))
Szene aus dem Film: Oliver Lessmann misstraut dem Pflegpersonal seiner Frau. | Bild: Radio Bremen / Christine Schröder

Frau Bühlig, Sie haben das Drehbuch zum Tatort "Im toten Winkel" geschrieben. Darin geht es um häusliche Pflege, ein gesellschaftlich-politisches und zugleich sehr persönliches Thema.Wir erleben im Film den Rentner Horst Claasen, der seine schwer demente Frau tötet, da er mit der Situation überfordert ist.Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Tatort gekommen?

Das Thema Pflege interessiert mich schon sehr lange. Rund 2,8 Millionen Menschen, das sind drei Viertel aller Pflegefälle in Deutschland, werden zuhause von ihren Angehörigen versorgt. Eine Infratest-Untersuchung ergab, dass sich 42 Prozent der privat Pflegenden von ihrer Situation "schwer belaste"“ fühlen, 41 Prozent sogar "extrem belastet". Mehr als 80 Prozent also leiden unter permanenter Überforderung. Und das über Jahre hinweg, denn die durchschnittliche Pflegezeit beträgt heute rund zehn Jahre. Angehörige von Demenzkranken haben es noch um vieles schwerer. Sie müssen zusehen, wie ein geliebter Mensch nach und nach seine Persönlichkeit, seine Identität verliert und können letztlich doch nichts dagegen tun. Die Begleiterscheinungen der Krankheit sind grausam. Zum Beispiel verlieren die Patienten die Kontrolle über ihre Blasen- und Schließmuskel, um nur eins zu nennen. Und was das für die pflegenden Angehörigen betrifft, kann man sich ja denken. Von den Verhaltensänderungen, die oft aggressiv und starrsinnig sind, mal ganz abgesehen. Was unseren Horst Claasen betrifft, hat er jahrelang aufopferungsvoll seine Frau gepflegt, ist aber letztlich auch an der Pflege zerbrochen. Denn diese Krankheit macht auch einsam: Herr Claasen wusste sich einfach nicht mehr zu helfen, die Hilflosigkeit seiner Frau hat sich komplett auf ihn übertragen.


Gab es einen besonderen Anlass, das Buch zu schreiben?

Nein. Jeder von uns hat mit diesem Thema irgendwann zu tun, ob wir das wollen oder nicht. Ich selbst bin jetzt in einem Alter, in dem meine Mutter immer mehr Hilfe braucht, um im Alltag zurechtzukommen. Es ist absehbar, dass sie irgendwann nicht mehr allein leben kann. Was dann? Natürlich mache ich mir darum Gedanken, wie Millionen andere Menschen auch. Nachdem über die zum Teil schlimmen Zustände in den Pflege- und Altenheimen mittlerweile ja ausreichend berichtet wird, ist die häusliche Pflege, also das was hinter den verschlossenen Türen passiert, immer noch ein großes Tabuthema. Fast nie dringt nach draußen, was sich in der häuslichen Pflege an kleinen und großen Katastrophen tagtäglich abspielt. Und genau davon wollte ich erzählen.

An einer Stelle sagt Horst Claasen: "Wir haben uns das Leben nicht mehr leisten können!" Ist es tatsächlich so, dass sich viele Menschen in Deutschland die Pflege ihrer Angehörigen schlichtweg nicht leisten können?

Seit Anfang des Jahres existieren fünf Pflegegrade. Die Leistungen für Pflegebedürftige zu Hause reichen von 125 Euro bis maximal 901 Euro monatlich. Bei stationärer Pflege beginnt die Unterstützung auch bei 125 Euro, steigert sich aber bis 2005 Euro. Die Pflegekasse zahlt also für stationäre Pflege viel mehr als für häusliche Pflege, teilweise mehr als das Doppelte. Und da drei Viertel aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt werden, bereichert sich unser Staat auf Kosten der pflegenden Angehörigen. Denn die müssen, um die Pflege überhaupt leisten zu können, ihre Arbeitszeit zumindest reduzieren, wenn nicht den Job ganz aufgeben. Die Folgen davon sind ein Leben auf Hartz IV-Niveau. Denn das Pflegegeld ersetzt nun mal keine Berufstätigkeit. Und wenn diese Angehörigen dann selbst in Rente gehen, setzt sich das Thema leider fort. Um bei Horst Classen zu bleiben: Das Ehepaar hatte keine große Rente, die Ersparnisse waren aufgebraucht.

Hauptkommissarin Inga Lürsen zieht aus den Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem ihre eigenen Schlüsse. An einer Stelle spricht sie von "sozialverträglichem Frühableben" und "Wenn wir das alle tun würden, hätte unser Staat ein paar Probleme weniger". Ist Ihnen diese Haltung bei Ihren Recherchen tatsächlich begegnet?

Zugegeben, diese Gedanken von Inga Lürsen sind zynisch, vor allem aber sind sie bitter und provozieren. Genau das habe ich beabsichtigt. Übrigens ist das "sozialverträgliche Frühableben“" nicht meine Wortschöpfung, sondern stammt, aus dem Zusammenhang gerissen, vom früheren Ärztekammerpräsidenten Karsten Vilmar und wurde 1998 zum Unwort des Jahres erklärt. Schon damals hat man sich also Gedanken gemacht, dass ein Mensch mit Erreichen des Rentenalters mehr Kosten als Nutzen verursacht.

Wie sahen grundsätzlich Ihre Recherchen zu diesem Thema aus?

Mit am spannendsten in meinem Beruf sind die Recherchen. Ich recherchiere sehr gründlich. Es gibt, glaube ich, zwei Gruppen von Autoren: Die eine Gruppe schreibt drauflos und recherchiert während des Schreibens oder danach die nötigen Fakten und die andere Gruppe recherchiert vorher und baut auf dem Wissen ihre Geschichte. Beide Gruppen haben ihre Berechtigung. Ich gehöre aber eindeutig zur zweiten Gruppe. Erst wenn ich weiß, wovon ich schreibe, fange ich an, meine Geschichte zu erzählen. Für "Im toten Winkel" habe ich zuerst viel über häusliche Pflege gelesen und Reportagen gesehen. Mit dem Anfangswissen habe ich mich an den MDK, dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung hier in Berlin gewandt. Ich wollte unbedingt einen Gutachter während seiner Arbeit begleiten. Es dauerte ein Weilchen, bis meiner Bitte entsprochen werden konnte, weil Anfang dieses Jahres ja die neue Pflegereform in Kraft trat. Die alten Pflegestufen wurden in Pflegegrade umgewandelt, es gibt seitdem ein völlig neues Prüfverfahren. Im März war es dann soweit, ich durfte einen Gutachter nicht nur begleiten, sondern ihm auch tausend Fragen stellen. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die ihre Angehörigen pflegen und damit weit über ihre Belastungsgrenze gehen. Es gibt Vereine, wie zum Beispiel Schädel-Hirnpatienten in Not e.V., die mich unterstützt haben und, was das "Kriminelle" angeht, hatte ich einen wunderbaren Fachberater bei der Bremer Polizei.

Warum haben Sie dieses Thema ausgerechnet in einen Tatort bzw. in ein Krimiformat gebracht?

Ich gebe zu, dieses Thema schreit nicht unbedingt nach einem Tatort. Das hat vor allem dramaturgische Gründe. Man braucht beim Tatort nun mal einen Toten. Wenn aber ein pflegebedürftiger Mensch stirbt, ist die Tätersuche aus der Sicht der Kommissare – und das ist ja meistens auch die Sicht der Zuschauer – überschaubar und nicht unbedingt der Spannung dienend. Und doch war es für mich, für die Produktion und die Redaktion von Radio Bremen sehr wichtig, genau dieses gesellschaftsrelevante Thema in einem Tatort zu erzählen. Denn in einem Tatort habe ich die Chance auf ein Millionenpublikum. Und wenn wir es schaffen, dass die Menschen darüber reden, miteinander reden und die Verantwortlichen in der Politik vielleicht auch zuschauen und entsprechend handeln, dann haben wir unser Ziel erreicht. Denn Filmemachen hat für mich auch etwas mit Verantwortung zu tun. Das mag vielleicht komisch klingen, ist aber durchaus ernst gemeint. Ich möchte mit diesem Tatort die Menschen in den Fokus rücken, die jeden Tag aufopferungsvoll ihre Angehörigen pflegen. Ich habe einen riesen Respekt vor allen Pflegenden, da schließe ich ausdrücklich die professionellen Altenund Krankenpfleger mit ein. Ich finde,dass deren Arbeit bei weitem nicht ausreichend geschätzt und gewürdigt wird.

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