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Lettland: Russischer Alltag in Lettland

PlayDaugavpils steht auf einer Wand.
Lettland: Russischer Alltag in Lettland | Bild: NDR

Wer nach Daugavpils kommt, tut gut daran, etwas Russisch zu sprechen. Die Stadt tief im Südosten Lettlands gilt als Hochburg der russischen Minderheit im Land. Trotz EU und NATO-Mitgliedschaft fühlt und spricht die Mehrheit hier Russisch.  Aivars Jankovskis will das ändern. Er arbeitet für das lettische Justizministerium. Der Beamte soll sicherstellen, dass in Daugavpils Lettisch gesprochen wird. "Während der Sowjetzeit wurden hier viele Betriebe gebaut. Aus der ganzen Sowjetunion wurden Arbeiter eingeladen, nach Daugavpils zu kommen. Und so wurde der Anteil der Letten in der Stadt immer weniger", erklärt Jankovskis. Er nimmt uns mit auf eine Kontrolle. Er will eine Bar überprüfen. Aktentasche und Dienstausweis hat er immer dabei. Der Besitzer soll ihm die Menükarte vorlegen. Ist sie nicht lettisch, droht eine Strafe. 

Sanktionen treffen Lokomotiv-Fabrik von Daugavpils

Zwei Männer mit Helm und Schutzweste unterhalten sich.
Sergej Gladkov arbeitet in der Lokomotiv-Fabrik in Daugavpils. | Bild: NDR

Während der Beamte kontrolliert, fahren wir zur alten Lokomotiv-Fabrik von Daugavpils. Zu Sowjetzeiten war es ein Betrieb mit 4.000 Beschäftigten. Seit 150 Jahren nehmen sie alte Zugmaschinen auseinander, warten und reparieren sie. Als Sergej Gladkov hier als Arbeiter anfing, waren die glanzvollen Zeiten längst vorbei. Und doch ist der 39-Jährige stolz auf das, was sie im alten Werk können: "Ich glaube, wir sind die einzigen in Europa, die noch die alten Motoren reparieren können. Nein, ich glaube das nicht nur. Ich bin mir sogar sicher! Ein Dieselmotor ist fertig und geht nach Deutschland. Nach Russland geht nichts mehr. Dafür schauen wir jetzt nach Europa." Nachdem Russland die Krim 2014 annektiert, treffen die Sanktionen auch das Werk. Viele verlieren ihre Jobs. Seit Februar kommen nun gar keine Lokomotiven mehr aus Russland.  

Sergej zeigt uns eine Zugmaschine aus der Ukraine, repariert für acht Millionen Euro. Bezahlt sind sie noch nicht. Aber man müsse doch helfen, meint er. Mit dem Krieg sei alles komplizierter geworden. "Krieg ist die letzte Lösung. Er stammt doch aus einem anderen Jahrhundert. Man muss miteinander reden, Konflikte diplomatisch lösen."  Sergej ist in Daugavpils geboren. Neben Letten und einer großen Mehrheit aus Russland arbeiten auch Ukrainer hier. Ich will wissen, ob sie im Werk über den Krieg sprechen: "Wer hier zur Arbeit kommt, soll Züge reparieren. Wer reden will, kann das zu Hause tun. Was ich hier von den Leuten brauche ist, dass sie Züge reparieren. Das ist alles."

Ein Riss geht durch Bevölkerung von Daugavpils

So zurückhaltend wie in der Lokomotiv-Fabrik sind nicht alle in Daugavpils. Auf dem Markt wird frisches Gemüse verkauft. Doch die Geschäfte laufen schleppend. Die EU-Sanktionen gegen Russland bemerken sie auch hier, erzählt uns die russische Verkäuferin Lena: "Natürlich spüre ich das. Vor allem bei den Preisen. Gas, Heizung und Wasser – alles ist teurer geworden. Diese Sanktionen trifft das Volk. Nicht die Regierung, sondern die Menschen. Mehr will ich dazu nicht sagen."

Schnell spricht uns eine Frau an. Als Nonna hört, dass wir ein deutsches Fernsehteam sind, beginnt sie sofort auf die EU und die Sanktionen zu schimpfen. "Früher hat die Heizung im Winter 100 Euro gekostet. Wenn ich jetzt drei Mal so viel zahlen muss, dann reicht meine Rente nicht. Alles für die Heizkosten." Die Sanktionen seien doch eine Reaktion auf Russlands Angriff entgegnen wir und sie antwortet: "Russland bringt humanitäre Hilfe in den Donbas, nach Mariupol, überallhin. Russland tötet keine Einwohner, aber die Nationalisten in der Ukraine, die machen das. Die führen den Krieg."

Russophobie in Daugavpils?

Denkmal aus Stehlen.
Ein russisches Denkmal soll abgerissen werden. | Bild: NDR

Auch sechs Monate nach Kriegsbeginn geht ein Riss durch Daugavpils. Und die Regierung reagiert. In der Stadt steht ein Denkmal, das an den großen Vaterländischen Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland erinnern soll. Lettlands Regierung will es abreißen lassen, als Reaktion auf Russlands Angriff. Wir treffen Jurijs Zaicevs. Der Politiker saß lange für eine pro-russische Partei im Stadtparlament. Trotz Verbot feiert er hier am 9. Mai und trägt eine orange-schwarze Krawatte. Es sind die Farben des russischen Sankt-Georg-Bands, ein Militärabzeichen. "Wer gegen die Denkmäler ein Krieg führt, ist ein großer Idiot. Eine Frau ist mit einem roten Kopftuch gekommen. Die Polizei hat verlangt, dass sie das Tuch abnimmt. Ich wurde gezwungen, diese Krawatte loszuwerden. Nach meiner Meinung ist das Russophobie."

Für den Beamten Aivars Jankovskis hingegen sind es Gesetze. Er hat mittlerweile seine Kontrolle abgeschlossen. In der Bar war fast alles in Ordnung.  Als wir die Bar verlassen, wollen wir wissen, ob solche Kontrolle die Stimmung in der russischen Gemeinde nicht aufheizen würden. "Ich denke, diese Situation ist nicht akzeptabel. Seit 30 Jahren lebe ich in einem unabhängigen Lettland und wir müssen noch immer prüfen, ob die Menschen Lettisch sprechen. Und was die Kriegsdenkmäler angeht: Sie sollten schon längst weg sein, denn der Krieg ist lange vorbei“, sagt Jankovskis.
Wann genau das Denkmal in Daugavpils entfernt wird, will Lettlands Regierung bislang nicht sagen - aus Sorge vor Protesten der russischen Gemeinde. 

Autor: Christian Blenker, ARD-Studio Stockholm

Stand: 21.08.2022 19:43 Uhr

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