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China: Wanderarbeiter – erste Opfer der Wirtschaftskrise

PlayChinesische Arbeiter warten
China: Wanderarbeiter - erste Opfer der Wirtschaftskrise | Bild: ARD

Seit Monaten schaut Yu Qidong in Shenzhen auf die Stellenanzeigen einer Jobvermittlung. Ihn hat die Wirtschaftskrise hart getroffen: Der 52-Jährige gehört zur ersten Generation der Wanderarbeiter Chinas. Als junger Mann kam er aus der bitterarmen Provinz nach Shenzhen, um die Familie zu ernähren. China wurde zur Werkbank der Welt und er schuftete mit in den Fabriken. "Sicher bin ich betroffen. Schauen Sie sich die Plakate an. Sie suchen alle nur noch Arbeiter unter 40 und über 20. Es ist besonders schwer für uns Ältere", sagt Yu Qidong.

Besser geschultes Personal gesucht

Geschlossene Fabrik
Viele Fabriken in Shenzhen mussten schließen. | Bild: NDR

Geschlossene Fabriken, bankrotte Unternehmen in Chinas industriellem Herzen, dem Perlflussdelta. Das alte Erfolgsmodell billige Massenware läuft nicht mehr. Auf seinen Ruinen soll China zu einer modernen innovativen Industrienation werden. Doch der Übergang – wenn er denn gelingt – rumpelt und ist schmerzhaft. Besonders für Arbeiter wie Yu Qidong, die bei neuen Techniken nicht mehr mithalten können. Die Fabriken werden moderner und brauchen besser geschultes Personal.  

Hoher Druck für Wanderarbeiter

Wanderarbeiter lesen Stellenanzeigen
Arbeitskämpfe und Streiks nehmen zu. | Bild: NDR

Das Ohr nah am einfachen Arbeitervolk haben Nichtregierungsorganisationen. Zu ihnen kommen Wanderarbeiter, wenn sie Hilfe brauchen. Bei Streitigkeiten mit den Unternehmen, wenn die den Lohn nicht bezahlen. Die NGO-Mitarbeiter klären sie über ihre Rechte auf, denn oft nutzen Betriebe die Arbeiter extrem aus: "Ein Berater sagt uns, dass alle Wanderarbeiter über hohen Druck klagen würden. Man muss sehr hart arbeiten, sonst hast du nicht genug Geld, um deine Kinder zu ernähren. Und wenn dann einer eine Krankheit hat, reicht das Geld nicht für die Behandlung." Die NGO-Mitarbeiter wollen ihre richtigen Namen nicht sagen. Viele solcher Organisationen haben Angst vor Schwierigkeiten mit den staatlichen Sicherheitsbehörden – und davor, dass sie ganz schließen müssen.

Reizbare Staatsmacht

Arbeitskämpfe und Streiks nehmen laut Hongkonger Angaben deutlich zu. Die Behörden haben einige Arbeiteraktivisten kürzlich verhaftet, andere verhört oder eingeschüchtert. Die Lage für NGOs ist so schwierig wie seit vielen Jahren nicht mehr. In der Wirtschaftskrise ist die Staatsmacht reizbarer als ohnehin schon. Organisationen, die Unterstützung aus dem Ausland bekommen, machen sich besonders verdächtig. Die Regierung bereitet ein neues Gesetz vor, das den Handlungsspielraum der Organisationen weiter einschränken könnte.

"Es hat viele Streiks gegeben. Und sie wollen nicht, dass diese Streiks zu sogenannter sozialer Instabilität führen", vermutet Liu Kaiming von der Beratungsfirma ICO. "Vielleicht glaubt die Regierung, dass die Nichtregierungsorganisationen dabei eine Rolle gespielt haben, indem sie die Arbeiter zu Protesten ermuntert und so die Situation verschärft haben."   

Kosten sind in die Höhe geschnellt

 Lin Jiao
Die Hongkongerin Lin Jiao produziert Kleidung in Guangzhou. | Bild: NDR

Ortswechsel in die Nachbarmetropole Guangzhou: Lange war es leicht, Geld zu verdienen, jetzt müssen auch viele Unternehmen sehen, wie sie über die Runden kommen. Immerhin: Dienstleistungen wachsen, Hotels, Geschäfte, Restaurants haben mehr Bedarf – und auch die Textilindustrie sucht Näherinnen. Die Unternehmer klagen dennoch: Die Löhne sind in den vergangenen Jahren zu stark gestiegen. "Ich habe mein Geschäft seit gut drei Jahren. Letztes Jahr war das Schlimmste, ich konnte gerade noch die Miete bezahlen. Für mich selbst ist nichts geblieben. 200 Yuan, knapp 28 Euro, muss ich pro Tag einem Arbeiter zahlen", erzählt Zhong Yiliang von der Firma Yiliangfang.

Auch Mieten und andere Kosten sind in den letzten Jahren förmlich explodiert. Die Hongkongerin Lin Jiao produziert Kleidung in Guangzhou. Die Profite, sagt sie, seien massiv geschrumpft. Manche Wanderarbeiter können sich Guangzhou schon nicht mehr leisten und gehen deshalb zurück in die Provinz. Hier spürt man daher sogar einen Mangel an billigen Arbeitern. Und die Jungen sind besser ausgebildet, sie wollen die einfachen Jobs nicht mehr machen. Und dann wächst auch noch international die Konkurrenz: "Weil die Kosten so steigen, gehen einige Kunden in andere Länder, die günstiger sind als China heute. Wir können nicht mehr mit Vietnam, Kambodscha und Indien konkurrieren", erklärt Lin Jiao.

"Es kann ein schwerer Weg werden"

Zurück in Shenzhen: Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde aus einem Dorf die Millionen-Metropole. Sie steht für Chinas Wirtschaftswunder, das langsam zu Ende geht. Ob ein neues kommt, weiß niemand. Wanderarbeiter Yu meint, das Leben sei zwar weiter hart, aber ihm und seiner Frau gehe es verglichen mit damals heute viel besser. Er hat sein Leben lang viel gearbeitet, auch damit die beiden Söhne eine gute Bildung bekommen. Die haben nun Jobs und unterstützen ihn und seine Frau. Denn zum Sparen blieb nichts übrig. Auch er macht sich Gedanken, wie es mit Chinas Wirtschaft weitergeht: "Es ist im Moment schwer zu sagen. Es wird viel davon gesprochen, dass die Leute Start-Ups gründen und innovativer werden sollen. Aber Innovationen brauchen Zeit. Es kann also ein schwerer Weg werden." Und dann gibt es doch noch einen Lichtblick: ein Jobangebot. Herr Yu kann Waren für eine Fabrik ausliefern.

Autor: Mario Schmidt, ARD-Studio Peking

Stand: 11.07.2019 05:58 Uhr

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