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Großbritannien: Sexskandale im britischen Parlament

PlayBilder von Männern.
Großbritannien: Sexskandale im britischen Parlament  | Bild: NDR

Das ikonische, ehrwürdige Londoner Regierungsviertel Westminster hat einen Spitznamen: "Pestminster". Wer hier arbeitet, erlebt eine toxische Atmosphäre. Die Abgeordnete Charlotte Nicholes von der Labour Partei läuft abends auf dem Flur, als ein männlicher Kollege sie von hinten begrapscht und zu ihr sagt. "Schön, dass wir zusammen nach Hause gehen." Er bestreitet den Vorwurf. Charlotte erlebt das regelmäßig: "In meiner ersten Woche im Parlament wurde ich sofort gewarnt. Von wem ich mich fernhalten sollte, keine Drinks annehmen oder mitnehmen lassen sollte. Ich habe einiges an sexueller Belästigung erlebt. Sexistische Kommentare, ich wurde begrapscht. Auch Dinge die darüber hinaus gehen." 

Caroline Nokes, Abgeordnete der Konservativen Partei, arbeitet seit 13 Jahren als Abgeordnete und schätzt, dass sie seitdem mindestens fünfzig Mal belästigt wurde. Die Geschichten von anderen könne sie gar nicht mehr zählen. "Die meisten Frauen hier müssen ständig unangemessene Kommentare ertragen. Man redet oft nur über die physischen Übergriffe. Was ja auch passiert sind die vielen kleinen Attacken: 'Du bist ja nur hier weil Du Brüste hast.' Das geschieht ständig."  

Zurzeit erschüttert ein neuer Vergewaltigungsfall das Regierungsviertel. Wenige Tage davor sorgte Peter Bone für Schlagzeilen. Er soll sich einem Mitarbeiter mit heruntergelassener Hose genähert haben, was er zurückweist. Davor machten Vorwürfe sexueller Belästigung von Julian Knight die Runde. Auch er bestreitet das. Seit das aktuelle Parlament zusammensitzt, wurden schon 24 Fälle offiziell untersucht. Manche Ermittlungen laufen noch, über manche ist nichts bekannt. 

Sexuelle Belästigung im britischen Parlament: Angestellte trifft es besonders häufig

Ein Frau von hinten, im Hintergrund das britische Parlament.
Falsch verstandene Macht trifft auf Ohnmacht. Eine toxische Mischung. | Bild: NDR

Jade Filer hat Westminster verlassen. Sie war Mitarbeiterin im Parlament. Was dort passiere würde nirgends sonst geduldet, sagt sie. Mit anderen Frauen hat sie sich früh zusammengetan, um sich vor Übergriffen zu schützen. "Wir haben regelmäßig Geschichten ausgetauscht und uns gegenseitig Ratschläge gegeben, damit wir uns sicherer fühlen. Wir hatten eine Liste von Abgeordneten, die unheimlich waren oder bekannt für ihr unangemessenes Verhalten."

Angestellte trifft es besonders häufig. Unter ihnen existieren auch Chatgruppen mit unzähligen Geschichten. Aus Sorge vor Konsequenzen versuchen sie mutmaßlichen Peinigern aus dem Weg zu gehen, ist zu hören. Im Parlament, im Regierungsviertel, und auch abends in den angrenzenden Pubs. "Das sind sehr mächtige Leute. Und man hat oft Angst vor Konsequenzen, wenn man sich mit jemandem anlegt, den vielleicht 80.000 Leute gewählt haben. Als junger Angestellter hat man einfach Sorge sich Leuten entgegenzustellen, die eine Art Immunität besitzen", sagt Filer.

Falsch verstandene Macht trifft auf Ohnmacht. Eine toxische Mischung. "Was wir hier haben, ist eine Kultur, die den anderen nicht wertschätzt. Und wir haben uns nicht weiterentwickelt, wie man sich am Arbeitsplatz verhält. So wie es in jedem anderen Unternehmen der Fall ist", sagt Caroline Nokes.

Seit fünf Jahren gibt es im Parlament eine Beschwerdestelle. Charlotte Nichols hat den Fall ihres mutmaßlichen Flur-Peinigers dort gemeldet. Auf ein Ergebnis wird sie Monate warten müssen – Standard.  Hat sie Vertrauen in die Beschwerdestelle? "Dazu möchte ich nichts sagen."

Beschwerdestelle kann Strafen gegen Abgeordnete aussprechen

Die Beschwerdestelle kann Strafen gegen Abgeordnete aussprechen, wenn sich die sexuellen Übergriffe beweisen lassen. Chris Pincher musste dem Parlament acht Wochen fernbleiben, nachdem er Männer begrapscht hatte. Rob Roberts sechs Wochen, nachdem er eine Frau sexuell bedrängte. Patrick Grady von der Schottischen Nationalpartei durfte für Grapschen zwei Tage nicht ins Parlament und sollte Reue zeigen. "Ich habe mich bei demjenigen der sich beschwert hat für mein Verhalten und das Leid, das ich verursacht habe entschuldigt", sagte er im Juni 2022.

Auch Parteien können mutmaßliche Peiniger für eine Zeit  aus der Fraktion ausschließen. Im Parlament dürfen sie dennoch als parteilose bleiben. "Niemand glaubt, dass das alles in irgendeiner Form abschreckend wirkt auf Täter. Und es sendet auch kein Signal an Opfer, dass das Fehlverhalten ernst genommen wird", sagt Charlotte Nichols. "Die Beschwerdestelle muss schneller handeln und auch Abgeordnete rausschmeißen dürfen.  Wenn jemand der sexuellen Belästigung schuldig befunden wurde. Dann muss als Sanktion die politische Karriere zu Ende sein."

Für solche Maßnahmen braucht es eine Mehrheit unter den Parlamentariern. Daran hakt es bisher. Durchaus möglich also, dass bald ein neuer Fall öffentlich wird – in Westminster, genannt Pestminster. 

Autor: Sven Lohmann, ARD-Studio London

Stand: 12.11.2023 20:23 Uhr

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