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Türkei: Hoffnung in den Erdbeben-Trümmern?

PlayEin Gebäude steht schief auf eiber Straße.
Türkei: Hoffnung in den Erdbeben-Trümmern? | Bild: picture alliance / AA / Erhan Sevenler

 

Goldfisch "Nemo" konnten sie retten. Jetzt steht sein Aquarium etwas verloren mitten im Zelt herum. Für den neunjährigen Bünjamin ist der Fisch momentan eine wichtige Ablenkung - und etwas Gewohntes inmitten eines neues Alltags. "Gott hat unseren Fisch beschützt. Aber der andere ist leider gestorben. Vielleicht war es einfach zu viel Stress für ihn. Der eine Fisch starb, der andere hat überlebt", sagt Bünjamin Kesriklioğlu

Leben in einem provisorischen Camp rund für 2.000 Menschen

Eine vierköpfige Familie sitzt in einem Zelt auf dem Boden und isst.
Familie Kesriklioğl hat das Erdbeben überlebt. | Bild: NDR

Bünjamin und seine Familie haben das Erdbeben überlebt. Doch ihr Haus ist nicht mehr bewohnbar. Ein provisorisches Camp ist erstmal ihr neues zuhause, zusammen mit 2.000 anderen Menschen. Die Eltern versuchen möglichst wenig über das Erdbeben zu sprechen, bei den Kindern ist jene Nacht allerdings ein großes Thema. "Als wir aus dem Haus gerannt sind, hat mein Herz wild geschlagen und ich hatte große Angst. Ich hatte solche Panik, dass unser Haus über uns zusammenstürzt", erinnert sich Bünjamin Kesriklioğlu. "Ich kann mich jetzt so langsam wieder an alles erinnern", sagt sein Bruder Hüseyin. "Denn in der Erdbeben-Nacht ist wie in einem Film alles an mir vorbeigezogen."

Vater Muhammed liest aus dem Koran: Gebete für seine Angehörigen – denn mehrere sind bei dem Beben ums Leben gekommen. Auch die Kinder haben das mitbekommen. Wirklich trauern konnten sie alle bisher nicht. Wie auch, wenn man selbst noch mitten im Ausnahmezustand lebt. "Ich konnte seitdem noch überhaupt nicht weinen. Ich fresse das Ganze in mich rein, ich weiß das ist nicht gut", sagt Mehpare Kesriklioğlu. Muhammed Kesriklioğlu ergänzt: "Es ist sehr schwer, die Familie zusammenzuhalten und selbst dabei stark zu bleiben."

Ein bisschen Normalität auf dem Spielplatz

Um auf andere Gedanken zu kommen, nimmt Hüseyin seinen Bruder Bünjamin mit auf den Spielplatz. Hier fühlt es sich zumindest nach ein bisschen Normalität an. Psychologin Aslı Hilal Çiftçi beobachtet die Kinder. Sie bekommt mit, wie schlecht es vielen von ihnen geht, wie groß die Ängste sind: "Die Kinder haben Angst, dass es sich wiederholt. Weil es immer noch Nachbeben gibt. Letzte Nacht hatten wir auch wieder eins. Viele hier haben ja auch Verwandte und Freunde verloren und natürlich tragen sie nun eine große Angst in sich. Viele Kinder haben schon Angst, wenn ihre Eltern nur aufs Klo gehen, und sie alleine zurück gelassen werden."

Obwohl das Erdbeben noch keine zwei Wochen her ist, wissen Bünjamin und Hüseyin, dass ihr altes Leben erst einmal vorbei – oder zumindest unterbrochen ist. "Von meiner Mama morgens in meinem weichen Bett geweckt zu werden, das  vermisse ich sehr", sagt Bünjamin. "Genau", stimmt Hüseyin zu. "Diese Geborgenheit, die gibt es hier nicht. Egal, was kommt, so ein Gefühl wie in meinem alten Bett, wird es nie wieder geben für mich."

Ungewisse Zukunft für die Betroffenen

Eine Junge hält ein Plüschtier im Arm.
"Pofuduk" hilft Bünjamin das Erdbeben zumindest ein wenig zu vergessen. | Bild: NDR

Viele Erdbeben-Überlebende berichten noch Jahrzehnte später, dass sie ihre Ängste nie richtig überwunden haben. Tanzen hilft dagegen wohl auch nicht, aber es lenkt die Kinder etwas ab. Und bringt sie zum Lachen. Allein das – ein großer Erfolg. "Jeden Tag wird es jetzt etwas besser. Die Kinder beteiligen sich an den Spielen und vertrauen uns langsam. Wie sie sehen, lachen sie jetzt. Das konnten sie am Anfang nicht", erzählt Kinderbetreuerin Güner Bozkurt.

Wie es weitergehen soll, wissen die wenigsten hier. Auch Bünjamins Familie. Hier im Lager bleiben und auf den Wiederbau warten? Oder doch ein neues Leben in einer fremden Stadt wagen? Der Gedanke daran schmerzt. "Nächsten Monat wäre unsere letzte Rate für die Wohnung fällig gewesen. Wir waren sehr froh darüber - eigentlich. Die Wohnung hätte dann endlich uns gehört. Aber jetzt ist alles weg", sagen Mehpare und Mohammed Kesriklioğlu. Bünjamin Kesriklioğlu sagt: "Ich versuche nicht zu viel über alles nachzudenken. Und um zu vergessen, spiele ich mit meinem Teddybär "Pofuduk". "Pofuduk", ein rosa Freund, den er im Lager geschenkt bekommen hat und der ihm nun dabei hilft, das Erdbeben zumindest ein wenig zu vergessen. 

Autorin: Katharina Willinger, ARD-Studio Istanbul

Stand: 19.02.2023 19:40 Uhr

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