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Armenien: Geflüchtete finden ein neues Zuhause

PlayNeue Heimat Armenien: Geflüchtete aus Bergkarabach.
Armenien: Geflüchtete finden ein neues Zuhause | Bild: WDR

Der Herbst zeigt jetzt seine schönsten Farben, im Tal von Hankavan, nördlich von Eriwan. Für sie ist es allerdings kein Urlaub – sie sind geflohen. Fünf Söhne und fünf Töchter hat die Familie Sargsyan. Der Vater ist gerade auf der Suche nach einem neuen Haus. Mutter Elvina kann es noch immer nicht fassen: Sie mussten fliehen, mussten ihr Zuhause in Bergkarabach verlassen. Ihr fehlen die Worte. Sie ist sprachlos. Deshalb soll die älteste Tochter, Ninel, mit uns sprechen. Ich frage sie: Was wird sie ihren jüngeren Geschwistern eines Tages erzählen, wie es damals war, in der Heimat, in ihrem alten Zuhause? "Dort, wo wir gelebt haben, war es wie im Paradies. Aber leider sind wir nicht mehr dort", sagt Ninel.

Eine allgegenwärtige Bedrohung

Armenien: 100.000 Menschen wurden aus Bergkarabach geschickt.
Armenien: 100.000 Menschen wurden aus Bergkarabach geschickt. | Bild: WDR

Ein altes Sanatorium ist jetzt ihr Zufluchtsort. Gebaut in den achtziger Jahren. Verdiente Sowjetbürger:innen durften sich hier auf Kosten des Staates erholen. Vom einstigen Luxus ist nichts mehr zu sehen. Im Inneren des Gebäudes fühlt es sich kälter an als draußen, es gibt keine Heizung, oft auch stundenlang keinen Strom, aber für 50 Flüchtlinge immerhin ein Dach über dem Kopf, gespendete Kleidung und warme Mahlzeiten – nach den langen Monaten der Hungerblockade von Bergkarabach. Ninel ist erst 15, aber sie hat schon ganz konkrete Pläne: sie will Köchin werden und ein eigenes Restaurant eröffnen. An diesem Ort – Zizernakaberd  – erinnern sich die Armenier an das schlimmste Grauen ihrer Geschichte: den Völkermord, begangen durch die Türken im Ersten Weltkrieg. In Stein gemeißelt die Namen der Städte, aus denen die Vorfahren vertrieben wurden: Ankara, Adana, Diyarbakir, Konstantinopel – und viele andere. Und dieses Jahr wieder: 100.000 Armenier:innen auf der Flucht. In Bergkarabach triumphiert er: Aserbaidschans Machthaber Aliyev – die Armenier hat er von hier vertrieben, doch das scheint ihm nicht zu reichen: er bezeichnet den Nachbarstaat Armenien als "West-Aserbaidschan". Droht also noch eine Vertreibung? Soll Armenien gar von der Weltkarte verschwinden?

Der armenisch-amerikanische Politikwissenschaftler Arthur Khachikyan kritisiert die Untätigkeit des Westens scharf: "Öl und Gas scheinen wichtiger zu sein als das Blut von Armeniern. Europa denkt noch nicht mal mehr über Sanktionen nach. Es ist eine Schande: Kommissionspräsidentin von der Leyen nennt diesen Diktator Aliyev einen Freund und verläßlichen Partner. Wir sitzen zwischen den Stühlen. Russland hilft uns nicht, der Westen auch nicht. Wir warten quasi nur darauf, dass uns die türkische oder die aserbaidschanische Armee angreift." Und darauf bereiten sie sich vor. Samstagabends in Eriwan. Junge Armenierinnen und Armenier beim Training für den Ernstfall. Erste Hilfe unter Gefechtsbedingungen. Die Ausbilderin schaut genau hin: eine schwer verletzte Kameradin muss versorgt werden. Die Verwundete windet sich vor Schmerzen. Ihr blutendes Bein wird abgebunden. "Warum nehmen Sie hier teil?" "Ich denke, das sollten wir alle machen. Denn wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf den Krieg vorbereiten."

Nach dem Außentraining – Waffen reinigen – auch wenn sie die hier, in einem Wohngebiet, natürlich nicht benutzt haben. Für Männer besteht in Armenien Wehrpflicht, für Frauen nicht. Sie können sich freiwillig melden – oder bei solchen Übungen mitmachen. Für die Teilnehmer:innen ist das kostenlos, finanziert mit privaten Spenden. Und von Woche zu Woche kommen mehr, die freiwillig mitmachen wollen, bestätigt uns Arsene, einer der Mitorganisatoren: Mann und Frau, jung und alt: "Wie verteidigen wir uns? Das geht in den Köpfen der Leute vor, insbesondere bei denen aus Bergkarabach. Die haben ihre Heimat verloren, in der sie aufgewachsen sind und ein gutes Leben geführt haben. Das ist echt übel, hier zu leben, umzingelt von Feinden."

Ein neuer Anfang

Armenien: Waffen reinigen: Für Männer besteht Wehrpflicht, für Frauen nicht.
Armenien: Waffen reinigen: Für Männer besteht Wehrpflicht, für Frauen nicht. | Bild: WDR

Familie Sargsyan ist erstmal in Sicherheit, wir treffen sie wieder beim Einkaufen. Vater Seyran hat tatsächlich ein Haus zur Miete gefunden. Sie können bald ihre provisorische Unterkunft im alten Sanatorium verlassen und sich neu einrichten. Der armenische Staat stellt das Startkapital: 200 Euro für jedes Familienmitglied. Ninel, die angehende Köchin, würde gerne ein neues Messer kaufen: "Bei der Grenzkontrolle haben mich die Aserbaidschaner gezwungen, mein Küchenmesser abzugeben. Das war mein erstes Messer. Ein japanisches, mit Löchern unten, besonders gut fürs Pilze schneiden."

Dann kommt der große Moment: Seyran zeigt seinen Kindern zum ersten Mal das neue Zuhause. Lange hat das Haus leer gestanden – es gibt viel zu reparieren. Auch die Großeltern, Onkel, Tante und ein Cousin sollen hier einziehen – 17 Personen – und nur eine Toilette. Den Zorn und die Trauer, die sie in sich tragen, vor den Kindern wollen Seyran und Elvina das nicht zeigen. "Ich werde ihnen nicht beibringen, dass sie die Türken und die Aserbaidschaner hassen sollen, so wie die ihren Kindern beibringen, uns zu hassen. Ich werde meinen Kindern sagen: seid vorsichtig, denn es könnte immer jemand hinter euch stehen und euch bedrohen. Die Türken sehen euch", sagt Seyran.

Nur wenige Wochen nach ihrer Flucht haben sie ein neues Zuhause gefunden – eines, in dem sie hoffen, sicher und ohne Angst leben zu können.

Autor: Michael Heussen / WDR Köln

Stand: 29.10.2023 19:29 Uhr

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