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China: "Der Große Sprung nach vorn" in den Hungertod

Junge Chinesen auf Spurensuche ihrer Geschichte

China: Der Große Sprung nach vorn in den Hungertod | Bild: BR

Bauer Jia packt seine Kamera ein. Auf der Suche nach Erinnerungen: Jia Zhitan will wissen, was früher war, die Vergangenheit kennenlernen – jenseits von Schulbüchern und Propaganda. Dafür geht er in seinem Dorf von Haus zu Haus, führt Gespräche mit den Alten, den Zeitzeugen.

Eigentlich ist Jia Zhitan Bauer in dieser kleinen Ortschaft in der Provinz Hunan. Heute ist er auch Dokumentarfilmer und ein kleines bisschen Historiker. Längst kennen ihn alle in der Gegend. Am Anfang waren viele skeptisch, manche hatten auch Angst, aber das ist vorbei.

Besuch bei seiner 83-jährigen Nachbarin Deng Dongzhen. Die Videokamera immer dabei. Jedes Interview zeichnet Jia Zhitan auf.

Im Zentrum seiner Fragen steht der so genannte "Große Sprung nach vorn", ausgerufen von Mao 1958. Hunderte Millionen Bauern wurde damals in Kollektive gezwungen, mussten fortan in Gemeinschaftsküchen essen. Gleichzeitig trieb die Regierung große Industrieprojekte voran mit Bauern als Arbeitern.

Der "Große Sprung" endete in einer Katastrophe. Mehr als 30 Millionen Menschen verhungerten, wurden gefoltert, totgeschlagen.

Deng Dongzhen:
"Je mehr wir arbeiten mussten, desto weniger gab es zu essen. Gekocht wurde in der Kollektivküche, aber es war kaum etwas im Topf. Nach dem Essen mussten wir in den Bergen weiterarbeiten, obwohl wir uns nicht annähernd satt gegessen hatten. Wer sich beim Stehlen erwischen ließ oder Nahrungsmittel versteckte, wurde hart bestraft. Oft waren die Vorwürfe aber nur erfunden, die Denunzianten erhofften sich eine Belohnung."

Die Erinnerung an die Opfer

Weltspiegel
Weltspiegel | Bild: BR

Long Tianyuan ist 74 und erzählt von ihrem Vater, dem vorgeworfen wurde, er habe einen Wasserbüffel vergiftet, anstatt ihn dem Kollektiv auszuhändigen. Zeugen hätten bestätigt, dass der Büffel krank gewesen sei, das habe aber nichts genützt.

Long Tianyuan:
"Mein Vater wurde festgenommen, verhört, kritisiert, geschlagen. Zwei andere waren in der gleichen Situation. Einer wurde sofort umgebracht. Auch mein Vater starb. Wir haben seine Leiche nach Hause gebracht Das ist wirklich passiert. Wir konnten damals nichts dagegen tun."

Jia Zhitan hat schon viele solcher Interviews geführt. Manchmal ist es kaum zu ertragen. Aber er macht weiter, weil er nicht will, dass die Vergangenheit vergessen wird und vielleicht auch, weil er damit seine eigene Geschichte aufarbeiten kann.

Ein toter Großvater

Jia Zhitan:
"Mein Großvater hungerte so sehr, dass er es nicht mehr aushielt. Er versteckte Nahrungsmittel in einem kleinen Behälter bei sich zu Hause, er klaute. Aber bevor er seine winzigen Vorräte essen konnte, verpetzten ihn andere an das Produktionsteam. Der Truppenführer und die Miliz nahmen ihn fest. Sieben Tage lang wurde er geschlagen und oben aufgehängt. Dann war er tot. Er war damals 67 Jahre alt."

Peking: Hier im Künstlerviertel Caochangdi verarbeitet Bauer Jia seine Interviews zu kleinen Filmen – Teil eines großen Erinnerungsprojekts, das der Künstler und Dokumentarfilmer Wu Wenguang angestoßen hat.

Zeitzeugen, um die Geschiche zu retten

Wu Wenguang:
"Wir leben in einer Umgebung, der es an Geschichtsbewusstsein mangelt. Wir haben in China keine Tradition, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. Das hat sich auch in den letzten Jahren nicht geändert. Auch in unserer Erziehung spielen diese Themen keine Rolle. Es fehlt uns aber nicht nur an Geschichtserziehung, sondern die Geschichte wird manchmal auch nicht so erzählt, wie sie wirklich passiert ist."

Hunderte Zeitzeugen in ganz China sind schon interviewt worden. Nicht nur Bauer Jia, auch viele junge Leute sind in die Dörfer ihrer Großeltern ausgeschwärmt, konfrontieren die Alten im Ort mit der schmerzlichen Vergangenheit.

Ausschnitt aus dem Film einer jungen Frau: Subjektive Kamera, jeder Schritt wird gedreht:
"Was erinnerst Du aus der Zeit, als alle verhungert sind?"
"Es war schrecklich, ich habe mich von Baumrinde ernährt."

Um die Geschichte betrogen

Nicht nur Film – Theater gehört ebenfalls zum Erinnerungsprojekt. Eine Probe: Auch hier geht es um die Erinnerungen an den "Großen Sprung nach vorn". Jia Zhitan spielt sich selbst, antwortet auf die neugierigen Fragen der jungen Generation:
"Wie sind Deine Geschwister ums Leben gekommen?"
"Meine kleine Schwester und mein kleiner Bruder sind damals verhungert, weil es nicht genug zu essen gab."
"Wie konnte so etwas geschehen?"
"Seit 1958 gab es die Zwangskollektivierung und Gemeinschaftsküchen."

Wu Wenguang:
"Wie viele Jahre sind wir betrogen worden? Ganz langsam, eigentlich erst in den letzten zehn Jahren erfahren die Menschen, was wirklich passiert ist. Es war keine Naturkatastrophe, es lag nicht am Abzug der Experten aus der Sowjetunion, sondern diese Tragödie war selbstgemacht."

Ais der Geschichte für die Zukunft lernen

Zurück in Hunan – Jia Zhitan hat in seinem Dorf dafür gesorgt, dass offen über das Geschehene gesprochen wird, dass die Bauern sich trauen, die traumatischen Kampagnen zu kritisieren, dass ihre Erinnerungen für die Nachwelt erhalten bleiben.
Jia geht es nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit, für ihn ist es auch ein Projekt für die Zukunft.

Jia Zhitan:
"Wenn man sich nicht an die Geschichte erinnert und daraus Lehren zieht, dann kann man zwar zufrieden sein, aber nur für den Moment. Denn unsere Enkel oder die übernächste Generation, die könnten dann wieder wie Mao Zedong werden, und vielleicht wieder solche Fehler begehen."

Ganz allmählich beginnt in China eine Debatte über den verhängnisvollen "Großen Sprung nach vorn" – auch dank Menschen wie Jia Zhitan. Vielleicht wird es eines Tages auch möglich sein über die anderen Verbrechen der Mao-Zeit offen zu reden.

Autorin: Ariane Reimers / ARD Peking

Stand: 22.04.2014 14:54 Uhr

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