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Belgien: Ehevermittlung per Gentest

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Belgien: Ehevermittlung per Gentest | Bild: BR

Sie singen Psalme und loben den Herrn: Väter, Mütter und Kinder feiern auf den Straßen von Antwerpen die neue Thorarolle. Das Herzstück jeder Synagoge und jedes Gebetsraums – die fünf Bücher Mose.

Ein wohlhabender Diamantenhändler hat sie in Auftrag gegeben. Jedes Gemeindemitglied durfte eines der letzten Worte selbst hineinschreiben. Wäre nur ein Federstrich verwischt, hätten sie von vorne beginnen müssen. Zwei Monate Arbeit wären vernichtet.

Jossi Weiss
Jossi Weiss | Bild: Foto: BR

Jossi Weiss, Diamantenhändler:

»Es ist ein göttliches Gebot, seine Kinder die Worte der Thora zu lehren, damit sie sie wiederum an ihre Kinder weitergeben können. Und es gibt nun mal das Gebot: seid fruchtbar und mehret euch.«

Mutter Weiss und Kinder
Mutter Weiss und Kinder | Bild: Foto: BR

Seine Frau und er haben sich an diesen göttlichen Befehl gehalten: Sie haben sechs Kinder. Sie leben nach den Gesetzen der Thora. Aber sie glauben auch an die moderne Naturwissenschaft: Deswegen haben sie vor der Ehe ihr Blut untersuchen lassen - auf genetische Defekte.

Chomi Weiss:

»Wenn es so aussieht, dass es ernst wird mit einer Beziehung, macht man den Test. Partner gleichen ihre persönlichen Code-Nummern ab, um festzustellen, ob sie genetisch zusammenpassen. Wenn ja, können sie heiraten. Und wenn nein, sehen sie sich halt nicht mehr. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme: So einfach ist das.«

Mann und Frau dürfen nicht das gleiche defekte Gen in sich tragen, denn dann würden ihre Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Erbkrankheit leiden. Einige besonders schwere kommen bei Juden überdurchschnittlich häufig vor. Das genaue Ergebnis der Untersuchung erfahren die Paare nicht – sie bekommen nur eine Codenummer.

Jossi Weiss:

»Wenn du ein Jude osteuropäischer Herkunft bist, weißt du definitiv, dass deine Ahnen untereinander geheiratet haben. Man ist halt im Dorf, im Schtetl geblieben, Cousins und Cousinen wurden vermählt. Deswegen ist genetisches Screening so wichtig. Wenn ich ein normaler Durchschnittsbelgier wäre, wäre das nicht nötig.«

Die Nachfahren aus dem Schtetl leben heute über die ganze Welt verteilt. Auch Chomi aus New York hat osteuropäische Vorfahren.

Chomi Weiss:

»Bei uns lebte eine gemeinsame Freundin unserer Familien, eine Nachbarin, die zufällig auch Heiratsvermittlerin war. Ihr Mann reiste oft nach Belgien. Und er kannte die Weiss-Familie aus Antwerpen. Eines Tages hat sie meine Mutter angerufen und gesagt. 'Ich habe da einen großartigen Mann für Deine Tochter.'«

Die Heiratsvermittlerin ließ Jossis und Chomis Nummern abgleichen – das Ergebnis: Die beiden müssen sich keine Sorgen um Erbkrankheiten machen – sie durften heiraten.

Chomi Weiss:

»Was wollen denn alle Eltern? Sie beten, dass ihre Kinder gesund sind. Solche genetischen Krankheiten kann man verhindern. Es geht uns ja nicht um Schönheit oder Intelligenz.«

Jossi Weiss:

»Wir wollen keine Babys mit blauen Augen und blonden Haaren. Wir wollen einfach Gesundheitsrisiken ausschließen, die das ganze Leben beeinträchtigen können.«

Wenn eine Heirat unter orthodoxen Juden geplant ist, wird fast immer vorher in Brooklyn in den USA angerufen: ein Rabbiner hat dieses System vor 34 Jahren entwickelt. Vier seiner Kinder sind gestorben an einer sehr seltenen, immer tödlich verlaufenden Erbkrankheit, Tay Sachs. In New York soll fast jeder sechste orthodoxe Jude Überträger sein.

Der Sitz von Dor Yeshorim
Der Sitz von Dor Yeshorim | Bild: Foto: BR

In der Zentrale von Dor Yeshorim, übersetzt heißt das „Geschlecht der Frommen“, sind die Testergebnisse von hunderttausenden Juden aus aller Welt gespeichert.

Zurück in Belgien: Auch im Laboratorium des Antwerpener Universitätsklinikums werden besonders häufig Blutproben jüdischer Patienten untersucht:

Bettina Blaumeiser, Genetikerin Universitätsklink Antwerpen:

»Wissenschaft und Religion müssen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen. Sie können einander auch anfüllen. Das ist ein perfektes Beispiel dafür. Es ist eine sehr wissenschaftlich durchtriebene Bevölkerungsuntersuchung, die aber letztendlich geschieht aus einer religiösen Umrahmung heraus.«

Dr. Rosenblum und Patient
Dr. Rosenblum und Patient | Bild: Foto: BR

Dr. Rosenblum nimmt in seiner Praxis immer wieder jungen Patienten Blut für den Gentest ab. Eine Sache von Minuten, die das ganze Leben ändern kann.

Dr. Martin Rosenblum, Allgemeinmediziner:

»Leiden muss absolut verhindert werden. Für Gesundheit muss gesorgt werden. Jeder orthodoxe Jude ist verpflichtet, seinen Körper gesund zu halten. Der Körper ist ja nur geliehen, ist nicht sein Eigentum. Und dafür muss gesorgt werden.«

Der Umzug durch Antwerpen endet am Gebetsraum – im Haus von Dr. Rosenblum. Jeder von ihnen hat sich testen lassen. Die meisten kennen ihr Ergebnis nicht im Detail. Sie wollen es nicht wissen, wollen nicht das Gefühl haben, womöglich schlechte Gene in sich zu tragen. Aber es gibt immer mehr, die das anonyme Zahlensystem in Frage stellen. Sie wollen nicht Codenummern, sondern Liebe über das Lebensglück entscheiden lassen.

Dr. Martin Rosenblum, Allgemeinmediziner

»Und darum würde ich es persönlich nicht tun. Meine Tochter hat es auch nicht getan. Das System mit Nummern sollte doch anders durchgeführt werden. Ich bin für eine ärztliche Beratung und keine anonymen Tests. Aber ich bin vielleicht auch Romantiker.«

Jossi Weiss:

»Romantik hat bei uns auch immer was mit Logik zu tun. Das ist das starke Fundament der Liebe. Du weißt, dass Du Dich nicht mit schlimmen Genkrankheiten wie Tay Sachs rumschlagen musst. Und das ist doch überhaupt kein Widerspruch zur Romantik.«

Tiefe Gläubigkeit und moderne Wissenschaft – Romantik und abgeklärtes rationales Verhalten – irgendwie muss das alles zusammenpassen. Ein jüdischer Mann soll eine jüdische Frau heiraten, um gesunde jüdische Kinder in die Welt zu setzen.

Gott ins Handwerk pfuschen – nein, das wollen sie nicht. Im Gegenteil: sie sehen es als sein Gebot, menschliches Leid zu verhindern.

Autor: Michael Heussen

Stand: 15.04.2014 10:45 Uhr

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