So., 26.08.12 | 19:20 Uhr
Indien: Die Sterilisationslotterie
Der Hauptgewinn ist ein nagelneues Auto. 6.918 Lose sind in der Losbox und Chefärzte im Krankenhaus von Pali sind die Glücksfeen. Doch wer gewinnen will, muss zunächst auf den OP-Tisch.
So wie Guddi. Sie lässt sich sterilisieren, nimmt so an der Lotterie teil. Modernste Operations-Methoden und das mitten auf dem Land in Rajasthan. Indien lässt sich Geburtenkontrolle etwas kosten. Der Doktor ist stolz. Wenn es sein muss, sterilisiert er zehn Frauen pro Stunde. "Die machen das alle freiwillig, kommen von alleine. Das ist die heutige Zeit. Jeder will seine Familieplanung im Griff haben. Und die Regierung stellt alles bereit, um das zu ermöglichen", erzählt Dinesh Kumar Sharda.
Das Kinderkriegen kann Indien nicht verbieten. Aber der Staat belohnt, wenn sich seine Einwohner unters Messer legen. 600 Rupien – etwa neun Euro – gibt es gleich auf die Hand. Und Rajasthan setzt die Lotterie, die Chance auf ein neues Auto, noch obendrauf
"Kondome bringen nichts"
Guddi lebt in einem Dorf. Hier gibt es keine Autos. Zwei Söhne und eine Tochter hat sie. Das jüngste Kind ist gerade erst geboren. Der Mann arbeitet weit entfernt, kommt nur zweimal im Jahr nach Hause.
Wie alt Guddi ist, wissen wir nicht genau. Sie sagt, sie sei 22, ihr Vater behauptet 28. Es gibt keine genaue Antwort. In Indien werden Frauen oft noch als Kinder verheiratet und dann schnell schwanger.
Verhütung. Kondome oder Anti-Babypille kommen für Guddi nicht in Frage. "Nein, das bringt doch alles nichts. Ich lasse mich sterilisieren." Und Gandga Devi, Guddis Mutter wirft ein: "Wir reden zu Hause nicht über Sex. Haben wir nie gemacht, nicht über Pillen oder Kondome. Wissen Sie, wir hier auf dem Dorf gehen unseren eigenen Weg." So war es und so soll es bleiben.
"Lasst euch sterilisieren!"
Im Dorf ist Ratan Kanwar unterwegs. Eine Hebamme im Auftrag des Staates. Acht Jahre schon zieht sie über die Dörfer - mit einer Botschaft: "Lasst euch sterilisieren!"
Familien die mehr als zwei Kinder haben, bekommen Besuch. "Manchmal sagen sie nein. Aber ich gebe nicht auf, bis sie überzeugt sind. Immer wieder frage ich nach. Ich muss das schaffen, sonst werden hier immer mehr Kinder geboren", erzählt die Hebamme.
Ratan Kanwar ist so erfolgreich, dass ihr bald die Arbeit ausgeht. 90 Prozent der Frauen im Dorf sind schon sterilisiert. Das ist ganz nach dem Geschmack von Chandra Saini: Er ist Koordinator für Bevölkerungskontrolle. 12.564 Sterilisierungen gab es in einem Jahr allein in seinem Distrikt.
Ein Auto, aber keinen Führerschein
Auto gegen Sterilisierung. So kann das aussehen: Upama Ram holpert im ersten Gang, ganz gemächlich. So, dass man sich schon ein bisschen Sorgen machen muss. Der Bauer hat jetzt ein Auto. Aber er hat gar keinen Führerschein. Er wird auch keinen machen. Dazu müsste erst lesen und schreiben lernen.
Seine Frau hat sich sterilisieren lassen und das Auto gewonnen. Darauf ist die Familie schon stolz. Aber was sollen sie nur mit einem Auto? Upama Ram kann ja nicht mal das Benzin bezahlen. "Ich wusste gar nicht, dass sie ein Auto verlosen. Mir haben sie erzählt, es gibt kostenlos Gas zum Kochen. Und deswegen habe ich meine Frau zum Sterilisieren geschickt", erzählt der Neu-Autobesitzer.
Die kleine Familie, das kleine Auto - es passt irgendwie nicht zusammen. Aufklärung und Bildung würden wohl mehr helfen als jeder Hauptgewinn. Egal - im Kreiskrankenhaus werden weiter Lose gezogen. Das nächste Auto geht wieder in ein kleines Dorf. Und wenn es nichts wird mit dem Auto, gibt es auf jeden Fall eine große Packung Ghee. Indisches Butterschmalz gewinnt garantiert jedes Los.
Autor: Gábor Halász, ARD-Studio Neu Delhi
Stand: 22.04.2014 14:52 Uhr
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