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Dagestan: Riskanter Alltag unter Gesetzlosen und Islamisten

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Dagestan: Riskanter Alltag unter Gesetzlosen und Islamisten | Bild: NDR
Aischat Zeretilowa
Aischat Zeretilowa ist verzweifelt. | Bild: NDR

Dagestan liegt im russischen Kaukasus. Eine wunderschöne Gegend, aber Russlands unruhigste Region. Jede Woche gibt es hier Terroranschlägeoder Gegenschläge der Polizei. Blutige Gewalt gehört zum Alltag.

Wir sind unterwegs in die Stadt Bujnaksk, zur Familie Zeretilow. Es war nicht leicht sie zu überreden, uns ihr Haus zu zeigen. Auch die Zeretilows mussten extra herkommen, denn sie wohnen hier nicht mehr. Ihr Haus ist am 6. Mai explodiert. Die Tante kommt zum ersten Mal zurück. Und Aischat, die Hausherrin, traut sich noch nicht weiter als bis in den Hof. Ins Haus führt uns die Schwägerin und erzählt eine unglaubliche Geschichte.

Ein Haus einfach gesprengt

Aischat Zeretilowa
Aischat Zeretilowa kann ihr Haus nicht mehr bewohnen. | Bild: NDR

Am 6. Mai sei die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl gekommen. Die Familie wurde rausgeschickt. Das Haus wurde weiträumig abgesperrt. Und dann flog es in die Luft. Man habe eine selbstgebastelte Bombe gefunden und die entschärfen müssen, stand dann im Protokoll. Vater Zeretilow wurde verhaftet. Er hätte einen Terroranschlag in der Stadt geplant, heißt es. Er soll die Bombe im Haus versteckt haben. Aber wenn nicht mal die Polizei sie entschärfen konnte, wie hätten er sie in die Stadt tragen sollen?

Bestrafen, glaubt die Familie, wollte man sie stellvertretend für den Sohn. Denn der ist seit einem Jahr verschwunden - als Islamist im Untergrund. Seine Mutter Aischat Zeretilowa hat das bis heute nicht verwunden: "Wir waren entsetzt, als unser Sohn verschwand. Die Polizei weiß das doch, wir waren so oft bei ihnen, haben sie angefleht: Sucht ihn, bringt ihn zurück, dazu seid ihr doch da. Verhaftet ihn, wir wären euch dankbar. Jetzt tun sie uns das an."

Abschreckung ist das Ziel

Abschrecken soll das Vorgehen der Polizei wohl. Das Haus der Zeretilows ist nicht das einzige. Auch bei den Umarows ein paar Straßen weiter war die Polizei. Auch hier gibt es einen Sohn, der im Untergrund sein soll. Auch hier wurde angeblich eine Bombe aufbewahrt.

Drei Häuser sind am 6. Mai gesprengt worden - drei unglaubliche Geschichten. Die Sicherheitskräfte geben dazu keine Auskunft.

"Aufgeklärt wird nie etwas"

Trümmer eines Hauses.
Trümmer eines Hauses in Dagestan. | Bild: NDR

In Dagestan ist die Situation mehr als angespannt. Überall in den Straßen ist Polizei. Hunderte junge Männer sollen im Untergrund sein. Islamistische Banden, die brutale Anschläge verüben. Vor allem auf die verhasste Polizei. Doch auch andere Kriminelle bedienen sich der Terroristen. Anfang des Monats starben in der Hauptstadt Machatschkala zwei Kinder vor diesem Geschäft. Der Sprengsatz lag vor der Ladentür, in einer bunten Schachtel. "Unsere Familie hat Feinde", erzählt die alte Ladenbesitzerin. "Und die heuern die Terroristen an. Aufgeklärt wird nie etwas. Das war schon die zweite Bombe. Wir haben Angst, Tag und Nacht. Lieber stehe ich im Laden und komme um als meine Söhne. Sie töten und bomben, und keiner kann etwas dagegen tun. Wir haben solche Angst."

Religion als Ausweg

Mohammed Magomedow, „Union der Gerechten“
Mohammed Magomedow, von der "Union der Gerechten", im Interview. | Bild: NDR

Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands und traditonell muslimisch. Die meisten hier sind gemäßigte, moderne Moslems. Doch seit ein paar Jahren sind selbst in der Hauptstadt Machatschkala streng verhüllte Frauen zu sehen. Immer mehr bekennen sich zum konservativen Salafismus.

In einer Atmosphäre von Gewalt und Gegengewalt, von Armut und Korruption ist Religion für viele ein Ausweg. Hier in Machatschkala hat auch Tamerlan Tsarnajew, einer der Brüder aus Boston, letztes Jahr entscheidende Monate verbracht. Er wohnte im Zentrum der Stadt, er betete in einer Moschee der Salafiten. Drei junge Männer aus seiner Gemeinde sind bereit, uns zu treffen. Und zu erklären, was den strengen Islam für die Jugend so anziehend mache. "Die Lasterhaftigkeit der Gesellschaft sehen wir nicht nur in Dagestan, sondern überall in Russland. Korruption, Verderbtheit und als junger Mensch hast keine Chance auf Karriere ohne Beziehungen nach oben. Du suchst nach Alternativen. Hier in Dagestan haben wir als Alternative den Islam. Der füllt das geistige Vakuum", sagt  Mohammed Magomedow von der "Union der Gerechten".

Fundamentalismus und Verschwörungstheorien

Die drei gehören einer streng religiösen Gruppe an. Gewalt lehnen sie entschieden ab. Dennoch sind sie im Visier der Polizei. Jeder mit Vollbart gilt hier als gefährlich, sagt einer. Zu den Treffen ihrer Gruppe kam auch Tamerlan Tsarnajew. Doch über ihn wollen sie nicht reden. Auch nicht über islamischen Terrorismus.

Dagestan ist ein Boden, auf dem Fundamentalismus und Verschwörungstheorien gedeihen - ebenso wie Terrorismus. Ein Rezept dagegen hat Russland nicht - außer Gewalt. Aber die erzeugt nur neue Gewalt.

Autorin: Ina Ruck, ARD-Studio Moskau

Stand: 22.04.2014 16:05 Uhr

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