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Türkei / Syrien: Verzweifelte Lage der Kurden

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Türkei / Syrien: Verzweifelte Lage der Kurden | Bild: NDR
Tamer Dogan im Interview.
Tamer Dogan kommt aus Istanbul, um die Kurden in Syrien zu unterstützen. | Bild: NDR

Sie sind Lehrer, Arbeiter und Rechtsanwälte und gehören einer Aktivistengruppe aus Istanbul an. Tamer Dogan, ist Kurde und von Beruf Anwalt für Arbeitsrecht. Warum will er den Kampf gegen den IS unterstützen? "Ich wollte in Istanbul nicht weiterhin nur Presseerklärungen abgeben. Zwar hat die politische Arbeit dort auch eine Bedeutung und wird hier wahrgenommen. Aber nun gibt es eine konkrete Revolution in Syrien."

Zuhause in Istanbul sind er und seine Freunde in der Gezibewegung und in linken Gruppierungen aktiv. Doch nun geht es um mehr sagen sie. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bedrohe nicht nur die Kurden in Syrien, sondern alle Menschen in der Region.

"Jede Nacht gehen viele Aktivisten rüber"

Wir sind in dem kleinen Dorf Eglice: In Sichtweite die Grenze und die syrische Stadt Ayn al Arab, die die Kurden Kobane nennen. Am Abend, so heißt es, soll symbolisch ein 24 Kilometer langer Streifen der Grenze überwacht werden, denn offiziell ist das türkische Militär zuständig.

In der Nacht suchen wir die Istanbuler Gruppe. Bitte kein Kameralicht heißt es. Es sieht wie ein Nachtpicknick aus, doch sie alle wollen rüber nach Kobane. Über den bewaffneten Kampf will keiner offen sprechen. "Jede Nacht gehen viele rüber, illegal über die Grenze, um zu kämpfen, aber ich kann das nicht, hab das nicht gelernt. Ich könnte anders helfen."

Skepsis gegenüber türkischer Regierung

Flüchtlinge aus Syrien überqueren die türkische Grenze.
Flüchtlinge aus Syrien überqueren die türkische Grenze. | Bild: picture alliance / AA

Am nächsten Tag sind wir wieder in Eglice und suchen die Istanbuler. Während wir mit Dorfbewohnern sprechen, schlagen immer wieder Granaten nahe der Grenze ein. Im Bus der Istanbuler fahren wir weiter. Was macht ihr jetzt? fragen wir die Aktivistin Semra? "Wir fahren zu einem anderen Grenzabschnitt, aus Sicherheitsgründen. Dort werden wir unsere Aktion fortsetzen."

Sie wollen am Grenzzaun gegen die türkische Regierung protestieren. Sie alle glauben nicht, dass der Staat die Terrormiliz IS ernsthaft bekämpft und die Grenzen vollkommen abriegelt. Auch wenn Präsident Erdogan erst vor wenigen Tagen angekündigt hat, die Koalition gegen die Terroristen logistisch oder militärisch zu unterstützen.

3.000 Aktivisten überrennen Grenze

Kurden auf den Straßen von Kobane
Unterstützung für Kobane: Türkische Kurden sind illegal über die Grenze gekommen. | Bild: NDR

Und dann geht alles ganz schnell. 3.000 Aktivisten überrennen die Grenze, die nur mit wenigen Wachsoldaten besetzt ist. Plötzlich stehen sie mitten in Kobane. Die verbliebenen Einwohner empfangen sie wie Befreier oder Beschützer. "Die vielen Menschen aus der Türkei sind eine große moralische Unterstützung. Wir möchten uns bei ihnen bedanken", sagt ein Kämpfer überglücklich.

Ihr Zug durch die Straßen von Kobane wird zu einem Freudenfest und dabei greift die Terrormiliz IS die Stadt gerade von drei Seiten her an. Fällt Kobane, droht eine neue Flüchtlingswelle: Noch immer leben über 100.000 Einwohner in der Stadt.

"Es ist besser so in die Stadt zu kommen, anstatt nachts über vermintes Gebiet zu marschieren. Wir sind sehr glücklich und stolz dass wir hier sind", sagt Tamer Dogan. Er will bleiben - zwei, drei Wochen. Wo er eingesetzt wird, weiß er noch nicht. Aber gebraucht wird hier jeder Helfer.

Militärische Lage immer angespannter

Kurdische Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze.
Vor der IS auf der Flucht: Kurdische Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze. | Bild: picture alliance / AA / picture alliance / AA

In der Stadt verlieren wir ihn wieder aus den Augen. Wer ist Einwohner und wer ist aus der Türkei gekommen? Alles verschwimmt in diesem Augenblick. Dann fahren immer wieder Gruppen von Kämpfern vorbei. Mittlerweile sollen sich über 1.000 Männer und Frauen von außerhalb Syriens gemeldet haben, um aktiv gegen die Terrormiliz Islamischer Staat zu kämpfen. Die militärische Lage wird immer angespannter.

"Es gibt starke Angriffe von drei Seiten auf die Stadt. Wir verteidigen uns noch, so gut wir können", sagt ein Kommandeur. Es ist ein verzweifelter Kampf: Der IS ist wesentlich besser bewaffnet als die Kurden und ihnen auch zahlenmäßig überlegen. Und noch zeigen die Luftangriffe der US-Amerikaner kaum Wirkung. Schützengräben werden jetzt schon in unmittelbarer Stadtnähe ausgehoben.

Dann sehen wir Tamer zum letzten Mal. Er verabschiedet sich von seinen Freunden. Aus der Istanbulgruppe wollen zehn Personen zum kämpfen bleiben oder sonst irgendwie helfen. Mulmig ist ihm schon, nachdenklich wirkt er. Sprechen will er nicht mehr.

Und dann wird es wieder Zeit, in Richtung türkische Grenze zu gehen und zu hoffen, dass alle wieder rüberkommen. Denn der Grenzübertritt war illegal. Das ist allen hier klar. Aber sie waren in Kobane - das zählt!

Autor: Martin Weiss, ARD-Studio Istanbul

Stand: 29.09.2014 09:00 Uhr

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