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Bosnien: Rückkehr an den Ort des Massakers

PlayEin Mann spricht in die Kamera.
Bosnien: Rückkehr an den Ort des Massakers | Bild: NDR

Butscha, Borodjanka, Mariupol – diese Städte stehen für schlimme Massaker der russischen Armee in der Ukraine im vergangenen Jahr. Es war ein Schock für die ganze Welt, dass so etwas wieder passieren könnte.  Mit großem Entsetzen hat das auch Adnan Zec mitverfolgt. Denn der 43-jährige Bosniake weiß, was das bedeutet. Er war 13, als im Bosnienkrieg kroatische Militärkräfte gegen die bosniakische Zivilbevölkerung vorgingen, mit dem Ziel, einen rein kroatischen Staat zu errichten. Vor 30 Jahren erlebte er das schlimmste kroatische Massaker des Bosnienkrieges mit – und, wie durch ein Wunder überlebte er.

Bosnisch-kroatische Soldaten überfallen Dorf

Adnan Zec steht vor seinem Elternhaus. Hier hat er vor 30 Jahren mit seinen Schwestern und den Eltern gelebt. "Ich bin hier in Ahmici aufgewachsen, ich war ein sehr glücklicher Junge, ich hatte Spaß die Situation war hier die gleiche wie im Rest Bosniens. Wir spielten fast täglich auf dem Schulhof." Doch dann passiert etwas, dass das Leben im Dorf für immer verändern wird. Zec erinnert sich: "Am 15. April bin ich mit dem Bus in die Schule gefahren und in diesem Moment habe ich gemerkt, dass keine kroatischen Kinder im Bus waren und auch in der Schule waren keine." Etwas stimmt nicht.

16. April 1993, früh morgens: Mit dem Ruf des Muezzins fallen plötzlich Schüsse. Es sind bosnisch-kroatische Soldaten, die das Dorf Ahmici von verschiedenen Seiten überfallen. Sie überraschen die Bewohner im Schlaf. Zec zeigt auf sein Elterhaus: "Das linke Fenster ist das wo meine Eltern damals schliefen, rechts daneben das Schlafzimmer meiner Schwestern."

Adnans Vater reagiert schnell, fasst einen Plan. Die Familie soll nach draußen laufen und in einem Nachbarhaus Schutz suchen. Adnan rennt um sein Leben, doch kroatische Soldaten stellen sich dem 13-Jährigen in den Weg. "Ich machte zwei Schritte und er traf mich im Bein. Ich fiel hin und in diesem Moment sah ich meine Eltern. Mein Vater fing an Fragen zu stellen: 'Warum schießt ihr? Was macht ihr da? bittet: Tötet mich und lasst meine Familie gehen." Der Soldat sagte zum anderen: "Töte ihn, auf was wartest du." Er sagte es ihm dreimal: 'Töte sie, töte sie, tötet sie.' Er schoss zweimal und meine Eltern fielen ins Gras. In diesem Moment erinnere ich mich dass ich versucht habe meine Eltern zu rufen, aber es kam nichts aus meinem Mund.

Dorf ist zweigeteilt: Kroaten und Bosniaken

Auf dem Weg durchs Dorf trifft Adnan eine Freundin von früher, mit ihr hat er als Kind gespielt. Auch sie hat 1993 Verwandte verloren. Das Dorf ist zweigeteilt: Links von der Straße leben vor allem Kroaten, rechts muslimische Bosniaken. Die rechte Seite wird an diesem 16. April angegriffen, es sind Spezialeinheiten der bosnisch-kroatischen Armee HVO. Sie feuern auf die Häuser der Bosniaken und setzen alles in Brand.

Als Tage später britische UN-Soldaten ins Dorf kommen, ringen selbst die erfahrensten unter ihnen nach Worten. "Es sieht so aus, als hätten Vater und Sohn die Mutter und die Töchter zu verteidigen versucht, die im Keller waren; der Vater und der Sohn wurden offensichtlich erschossen und verbrannten dann oben und dann hat irgendein Schwein Feuer gelegt, absichtlich, und die anderen verbrannten im Keller, fünf oder sechs; das ist einfach fürchterlich", sagt Oberst Bob Stewart.

Adnan versteckt sich acht Tage lang in diesem Nachbarhaus hinter einem Sofa. Als die UN-Truppen nach Ahmici kommen, schleppt er sich nach draußen, ruft um Hilfe und wird schließlich entdeckt. Er ist einer wenigen, der das Massaker überlebt hat. Seine Nachbarn, seine Freunde, seine Familie können nur noch tot geborgen werden. 116 Menschen sind es insgesamt, das jüngste ein Baby.

UN-Kriegsverbrechertribunal verurteilt einige Täter

Mahnmal mit 116 Namen.
116 Menschen wurde umgebracht. | Bild: NDR

Einige der Täter landen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, so auch der bosnische Kroate Dario Kordic. Als hoher politischer Funktionär sei er für Morde und Kriegsverbrechen in 15 Fällen verantwortlich, so das Urteil des Gerichts. Er wird zu 25 Jahren Haft verurteilt. Als er nach 17 Jahren rauskommt, empfangen ihn begeisterte Anhänger am Flughafen Zagreb.

Adnan kritisiert, dass seine kroatischen Nachbarn das Massaker bis heute verdrängen wollen. "Es wird ignoriert und die Verantwortlichen für das Massaker werden von den Kroaten hier eher als Helden statt als Kriminelle gesehen." Das spüren wir auch im Dorf als wir kroatische Bewohner auf die Ereignisse von damals ansprechen. "Ich weiß von nichts. Wir haben viel Arbeit und keine Zeit für solche Geschichten, sie stehen mir bis hier, kapiert?", sagt eine ältere Frau.

"Die HVO hat hier kein Massaker angerichtet"

Durch Zufall treffen wir Igor Kupreskic, den Sohn eines damaligen HVO-Unterstützers. Im Haus seines Vaters sollen während des Massakers kroatische Soldaten untergekommen sein. "Die HVO hat hier kein Massaker angerichtet, Sie haben falsche Informationen. Das Kriegsverbrechertribunal wurde speziell für Bosnien eingerichtet. Die haben hier vom ersten Tag an völlig falsch nach den Schuldigen gesucht."

An den Dorfeingang haben sie ein Kreuz gebaut – zur Erinnerung an die gefallenen Kroaten. Adnan kann es von seiner Terrasse aus sehen, es versetzt ihm jedes Mal einen Stich. Er lebt jetzt in den Niederlanden. Nach Ahmici kommt er trotzdem regelmäßig, um seine Erinnerungen zu bewahren – damit das, was 1993 passiert ist, niemals vergessen wird.  

Autorin: Anna Tillack, ARD Studio Wien

Stand: 16.07.2023 18:44 Uhr

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