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Frankreich: Ein Land im Ausnahmezustand

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Frankreich: Ein Land im Ausnahmezustand | Bild: NDR

Vereint in einer Moschee - Muslime, Christen, Juden, in Créteil bei Paris. Der Imam hat zu dem Treffen eingeladen, der Bischof und der Rabbi sind gekommen, und haben ihre Gemeinden mitgebracht. Auch Sandra und Timothé sind hier: Sie Muslima, er Katholik. Ein muslimisch-christliches Pärchen. Der Bischof hat sie verheiratet. Jetzt stehen sie für Toleranz zwischen den Religionen. "Ich bin in einem Viertel aufgewachsen, wo es Juden, Muslime und Katholiken gibt. Ich war schon oft in Moscheen und nicht nur, als es wie jetzt Tote gab", sagt Timothé. Sandra fügt hinzu: "Die Terroristen vertreten einen Islam, der nicht der Islam aller Muslime in Frankreich ist und es ist schlimm, dass sie das tun. Das sind keine Muslime. Das sind Unmenschen. Sie beschmutzen das Image der Muslime.” Zwei Botschaften wollen sie hier verbreiten: “Nous sommes unis.” “Wir sind eins”. Und: Islam und Frankreich. Das ist kein Widerspruch.

Jugendliche ohne Perspektiven

Botschaften, die nötig zu sein scheinen. An genau diese Moschee hat jemand rote Kreuze gemalt. Wir sind eins – Blumen in Gedenken an die Opfer in Paris, von Ismaïl Mounir und anderen Imamen. Sie kämpfen gegen Vermischung von Islam und Terrorismus. Doch warum sich Jugendliche radikalisieren, verwundert ihn nicht: “Die Jugendlichen aus den Vororten bekommen sehr früh das Gefühl, dass sie keine Franzosen sind. Welche Perspektive haben sie? Entweder eine mit arabischen Gesängen, die zum Hass gegen Frankreich aufrufen, oder sie werden Fußballstars oder kriminell. Wir sehen das jeden Tag, Politik und Polizei sehen das. Es ist eine Katastrophe."

"Du bist ein gekaufter Imam"

Imam Ismaïl Mounir (re.)
Ismaïl Mounir (re.) und andere Imame kämpfen gegen die Vermischung von Islam und Terrorismus.

Longjumeau liegt südlich von Paris. In dieser Stadt steht die kleine Moschee von Imam Mounir. Im Regal ein aufklärendes Buch: “Was islamische Gelehrte zum Terrorismus sagen”. Doch gefährdete Jugendliche erreicht er damit nicht, glaubt der Imam: “Wir fühlen uns entwaffnet. Vor 10 bis 15 Jahren sind Jugendliche zu uns Imamen gekommen, wenn sie sich für den Islam interessierten. Heute gehen sie ins Internet und kommen erst danach zu uns. Sie sagen dann: "Was denkst du über Anschläge? Ah, du bist dagegen? Na, gut, dann bist du ein gekaufter Imam."

Mounir ist deshalb selber im Netz aktiv. Doch er ist machtlos gegen die professionelle Propaganda der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS): “Sie nutzen die Kultur der Jugendlichen aus den Vororten, um sie zu verführen. Zum Beispiel nutzen sie islamische Gesänge. Sie wissen genau, dass frühere kriminelle Jugendliche Rap mögen."

Schon Elfjährige radikalisieren sich

Die Verführung beginnt immer früher. Dounia Bouzar leitet eine Präventionsstelle, die Jugendliche vor Radikalisierung bewahren möchte. Er sagt: “Die Jüngsten, die sich radikalisieren, sind elf oder zwölf Jahre alt. Sie wollen losfahren, um zu sterben.” Dounia Bouzar überrascht es daher nicht, dass die mutmaßlichen Attentäter von Paris so jung waren. Deren Gewaltbereitschaft verurteilen selbst radikale Imame scharf. Kein Wunder, sagt Bouzar: Sie kämpfen um die gleiche Zielgruppe wie der IS: “Der sogenannte Islamische Staat fängt gerade erst an. Ich glaube nicht, dass nur Frankreich das Ziel ist. Der IS hat ein klares Projekt, den Rest der Welt auszulöschen und zu erobern. Er wird alle Länder angreifen. Er hat nur mit dem einfachsten Ziel angefangen."

"In Frankreich reden wir nicht genug miteinander"

Sozialarbeiter Zouhairr Ech-Chetouani
"Es fehlt ein echter Dialog", sagt Sozialarbeiter Zouhairr Ech-Chetouani.

Der IS rekrutiert Menschen auch aus der französischen Gesellschaft. Vom Dorf genauso wie aus den Vorstädten oder aus Gefängnissen. Mit jungen Leuten darüber zu sprechen, ist so gut wie unmöglich. Seit Jahren fühlen sie sich in den Vorstädten von den Medien falsch dargestellt. Sozialarbeiter Zouhairr Ech-Chetouani erzählt, viele Muslime hätten jetzt wegen des Ausnahmezustands besonders Angst vor der Polizei. Sie fühlen sich nicht wirklich unterstützt von den Vertretern des Islam: "Die muslimischen Einrichtungen in Frankreich beantworten eben nicht die Fragen, die sich diese neue Generation von Muslimen stellt, die verschiedene Hautfarben haben, aus verschiedenen sozialen Schichten stammen. Und seit 20 Jahren fehlt der politische Wille, das zu ändern. Es fehlt ein echter Dialog. In Frankreich reden wir nicht genug miteinander."

Ein Dialog, zu dem diese jungen Männer bereit wären. Jetzt haben sie den Eindruck, sich für ihre Religion rechtfertigen zu müssen – obwohl sie mit dem gewalttätigen Islamismus nichts zu tun haben. Es ist noch ein weiter Weg bis zu "Nous sommes unis" – wir sind eins in Frankreich.

Autor: Demian von Osten, ARD-Studio Paris

Stand: 10.07.2019 03:56 Uhr

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