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Schweden: Geschlechtsneutrale Erziehung

PlaySchweden: Junge oder Mädchen? In Schweden wollen manche Eltern das nicht mehr verraten

Eli ist vier Jahre alt. Und im Moment sind Dinosaurier das Allergrößte. Puppen hat Eli nicht. Und auch sonst ist alles etwas anders. Denn ob Eli ein Junge oder ein Mädchen, das muss niemand wissen.

Eine Welt frei von Geschlechter-Klischees

Schweden: Junge oder Mädchen? In Schweden wollen manche Eltern das nicht mehr verraten
Schweden: Junge oder Mädchen? In Schweden wollen manche Eltern das nicht mehr verraten

"Viele Eltern kleiden ihre Kinder in rot oder rosa, wenn es Mädchen sind, oder in dunkleren Farben, wenn es Jungen sind. Und allein aus dem Grund, dass Eli hauptsächlich rosa trägt, vermuten die meisten automatisch, dass es sich um ein Mädchen handeln muss", erzählt die Mutter Miranda Rudklint. Miranda, Kim und Eli – eine Familie aus Stockholm. Kim ist transsexuell – und wird durch die Einnahme von Hormonen mehr und mehr zur Frau. Eli soll in einer Welt aufwachsen, die frei ist von Geschlechter-Klischees und Stereotypen. Und das fängt bei der Sprache an.

"Wir haben schon während meiner Schwangerschaft abgemacht, dass wir kein männliches oder weibliches Pronomen benutzen, sondern das geschlechtsneutrale "hen", bis Eli es selber bestimmen kann oder Eli es sich anders wünscht", so Miranda Rudklint.

Gefühl zeigen statt Geschlecht bestimmen

Schweden: Eli soll später selbst entscheiden, ob es ein Junge oder Mädchen sein will
Schweden: Eli soll später selbst entscheiden, ob es ein Junge oder Mädchen sein will

'Hen' ist ein Pronomen, das das Geschlecht bewusst offen lässt. Ein Kunstbegriff, der es 2015 in den schwedischen Duden geschafft hat. Geschlechtsneutrale Erziehung – in Schweden mehr als nur eine private Entscheidung. Auch Schulen und Kindergärten sind angehalten, stereotypen Geschlechterrollen entgegenzuwirken. Keine staatlich geförderte Einrichtung setzt diese Idee so konsequent um wie Egalia – Schwedens bekanntester und umstrittenster Kindergarten. Die Idee dazu hatte 2010 die Erzieherin Lotta Rajalin. Ihre Vision: Ein Ort der Gleichheit und Freiheit.

"Wir bevorzugen es, die Namen der Kinder zu verwenden. Wir sagen Lisa, Sarah, Mohammed und Carl, wenn wir über oder zu den Kindern sprechen. Oder wir verwenden den Oberbegriff 'Kind'. Und das hat nichts damit zu tun, dass 'Junge' oder 'Mädchen' hässliche Wörter sind, das sind sie absolut nicht. Aber unser Gehirn verknüpft 'Junge' und 'Mädchen' mit so vielen alten, traditionellen Stereotypen, Erwartungen und Mustern", sagt Lotta Rajalin, Vorschullehrerin.

"Ihr spielt doch alle gern. Gibt es denn eine von diesen Puppen, der man ansieht, dass sie fröhlich ist? Und woher wisst ihr, dass sie fröhlich ist", fragt eine Kindergärtnerin. "Weil sie einen fröhlichen Mund hat", antwortet ein Kind.

Gefühl zeigen statt Geschlecht bestimmen. Das gilt für die Puppen – und die Kinder. Die Wartelisten für Egalia sind lang. Viele Eltern, nicht nur gleichgeschlechtliche, wünschen sich einen Ort für ihre Kinder ohne Rollenklischees.

Einige Märchen werden im Kindergarten aussortiert

"Es gibt alle Variationen und das müssen die Kinder selber fühlen. Man kann Mädchen, Junge oder ein anderes Geschlecht sein. Aber man kann auch Mädchenmädchen oder Jungenjunge oder Mädchenjunge oder Jungenmädchen sein. Wir mischen uns da nicht ein", so Lotta Rajalin, Vorschullehrerin. Eine neue Pädagogik verlangt auch neue Bücher. Erzieher Martin erzählt den Kindern von starken Mädchen und Frauen. "Das ist Malala. Die nächste Person, über die ich etwas vorlesen möchte", sagt Martin Borgström, Erzieher.

Malala – Kämpferin für Kinderrechte in Pakistan und jüngste Friedensnobelpreisträgerin. Märchen von Mädchen dagegen, die nur darauf warten, dass der Prinz sie rettet, werden aussortiert. Selbst einige Kinderbücher von Astrid Lindgren müssen dran glauben.

"Aber da muss man dann halt ein bisschen was ändern. Wenn zum Beispiel die Männer zu sehr im Mittelpunkt stehen, dann gibt man ihnen Frauennamen. Oder man ändert die Pronomen "er" und "sie" und verwendet stattdessen das geschlechtsneutrale Wort "hen"", erklärt Martin Borgström, Erzieher.

Schweden: Das Pronomen "Hen", das das Geschlecht bewusst offen lässt, hat es in den schwedischen Duden geschafft
Schweden: Das Pronomen "Hen", das das Geschlecht bewusst offen lässt, hat es in den schwedischen Duden geschafft

Genderwahn im Kindergarten?

Kritiker der geschlechtsneutralen Erziehung schütteln den Kopf. David Eberhard ist Psychiater, Buchautor und selbst Vater von acht Kindern. Dass sein Sohn Niels gerne den Eishockeyschläger rausholt, ist für ihn keine Überraschung. "Jungs toben gern rum, raufen sich. Sie neigen vielmehr als Mädchen dazu, so zu spielen. Und das interessante ist doch, dass das biologisch veranlagt ist", so David Eberhard, Psychiater.

Biologie? Oder doch Erziehung und Gesellschaft? Wer oder was bestimmt letztendlich, ob Jungen tatsächlich lieber Eishockey spielen als Mädchen?

"Wenn man will, dass das Kind einfach nur Kind ist, und nicht etwas, dass wir bestimmen, dann ist es das Beste zu sagen: Jungs sind Jungs und Mädchen sind Mädchen. Und nicht anders. Man muss die Kinder keiner Gehirnwäsche unterziehen", findet David Eberhard, Psychiater.

Gehirnwäsche? Genderwahn im Kindergarten? Nein, sagen die Pioniere der geschlechtsneutralen Erziehung, aber bei ihnen dürfen Jungs auch mal Tütü tragen.

Das Beste fürs Kind

"Es ist ja nicht das biologische Geschlecht, das wir ändern wollen. Die Kinder haben ihre eigene Biologie und die gehört ihnen. Da mischen wir uns nicht ein. Uns geht es darum, dass sie Fertigkeiten, Wissen und Gefühle entwickeln – unabhängig von ihrem Geschlecht", sagt Lotta Rajalin, Erzieherin. Miranda lebt längst jenseits gängiger Geschlechter-Normen. Dass sie damit oft aneckt, nimmt sie in Kauf. In der U-Bahn wurde sie schon als Extremistin beschimpft, weil sie das Geschlecht von Eli nicht verraten wollte.

"Es fühlt sich beängstigend an, herauszustechen und nicht so zu sein, wie alle anderen. Vielleicht denken die anderen Eltern auch, es sei ihre Aufgabe, die Kinder möglichst angepasst zu erziehen. Dass sie es damit ihren Kindern so einfach wie möglich machen", sagt Miranda Rudklint.

Pronomen verändern, Spielzeug aussortieren, das Beste fürs Kind zu wollen — das ist für Elis Eltern das wichtigste. Und ob Eli ein Junge oder Mädchen ist? Bis zum Ende der Dreharbeiten ist das ein Geheimnis geblieben.

Autor: Norbert Lübbers

Stand: 12.09.2019 09:32 Uhr

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