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Polen: Ärztemangel kostet Menschenleben

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Polen: Ärztemangel kostet Menschenleben | Bild: SWR

Zweieinhalb Jahre wurde Dominika alt. Als sie plötzlich hohes Fieber bekam, riefen die Eltern den Notarzt des Kleinstädtchens Skierniewice. Doch der hatte keine Zeit. Als das Kind nach Stunden endlich versorgt wurde, war es zu spät. Es überlebte nicht. Ein Schicksal, das ganz Polen aufrüttelte. Denn es zeigte auf dramatische Weise: Es gibt im Land zu wenig Ärzte, zu wenig Krankenschwestern, zu wenig Pflegekräfte. Viele, die eine gute medizinische Ausbildung haben, wandern ins westliche Ausland ab,  wo sie deutlich mehr verdienen können. In Polen herrscht dafür der medizinische Notstand.

Eine Reportage von Ulrich Adrian, ARD Warschau

Krankenwagen
Die Rettungsdienste müssen immer wieder die fehlenden Ärzte ersetzen

Mittwochmorgen in Warschau, der Blick in die zentrale Rettungsleitstelle. Von hier aus werden rund 70 Krankenwagen koordiniert, die überall im Stadtgebiet auf Einsätze warten. Es ist ruhig an diesem Morgen, wenig Unfälle. Aber dann bekommt die Crew, die wir filmen dürfen, doch ihren ersten Alarmeinsatz. Ein Kind ist von der Schaukel gefallen, erfahren wir unterwegs per Funk. Später stellt sich glücklicherweise heraus, dass nichts Ernstes passiert ist. So geht das im Stundentakt weiter. Mehrfach treffen wir auf sogenannte „leżaks“, hilflose Personen. So umschreiben die Sanitäter drastisch Betrunkene, um die sie gerne einen Bogen machen, weil immer die Gefahr besteht, dass der Rettungswagen vollgekotzt wird und für mindestens einen halben Tag ausfällt. Nur jeder vierte Einsatz wäre wirklich nötig gewesen, oft sind es Bagatellen, zu denen sie gerufen werden.

„Wir fahren wie die Verrückten, um Leben zu retten und vor Ort stellen wir fest, dass der angeblich Bewusstlose fröhlich durch die Wohnung läuft und uns nur angerufen hat, weil er seit einer Woche keine Zeit für einen Arztbesuch fand“, erzählt der Rettungssanitäter Marcin Nowakowski. Und sein Kollege Pawel Wnuk ergänzt: „Naja, es ist ja auch schwer, einen Termin bei einem Arzt zu bekommen. Unser Gesundheitswesen in Polen funktioniert doch überhaupt nicht. Gerade nachts und an Wochenenden findest du keinen Arzt, auf Termine wartest du Monate. Da ist es am einfachsten und schnellsten, den Rettungsdienst anzurufen.“ Jeder weiß das, jeder tut es, wenn er krank ist, hier anzurufen, auch wenn es nicht ernst ist, gilt als Kavaliersdelikt. In der polnischen Ärztekammer spricht der Chef sogar vom Versagen aller Politiker – und erinnert an kommunistische Zeiten.

Zeitungsaussschnitt
Die zweijährige Dominika starb, weil sie nicht rechtzeitig behandelt wurde | Bild: SWR

„Polen hat sich verändert in den letzten 20 Jahren. Natürlich zum positiven, das bestreitet keiner“ sagt Dr. Maciej Hamankiewicz, Vorsitzender der Ärztekammer in Polen. „Aber das Gesundheitswesen wird immer schlimmer. Es ist die letzte Enklave des sozialistischen Systems, so kann das nicht weitergehen.“ Da hat er wohl recht. Erst vor zwei Monaten kam nahe Radom für die zweijährige Dominika jede Hilfe zu spät. In der Rettungswache glaubten sie erst an eine Bagatelle und schickten keinen Wagen. Das Mädchen starb an einem Virus. Die polnische Bildzeitung „Fakt“ titelte: Premierminister Tusk, mach Dich endlich an die Arbeit. In Polen sterben die Kinder!“

Ärztin
Ein Drittel aller Mediziner ist älter als 60 Jahre | Bild: SWR

Es gibt zu wenig Ärzte, das gilt überall. Auch hier im Kinderkrankenhaus in Sosnowiec im schlesischen Ballungsgebiet nahe Kattowitz. Die leitende Anästhesistin Lidia Latosinska wird im Mai 70 Jahre alt – und findet es völlig normal, dass sie nach wie vor Vollzeit im Dienst ist. Und sie sagt auch klar, dass sie gar keine andere Möglichkeit hat, wenn sie nicht verarmen will. „Mein Mann ist gestorben. Ich bin jetzt allein, und meine Rente reicht nicht, um die Miete zu bezahlen und normal davon zu leben. Das ist entschieden zu wenig.“ 40 Berufsjahre hat Lidia Latosinska hinter sich. Die Arbeit hält sie jung, sagt sie natürlich auch, aber als wir zurückfragen, ob es denn überhaupt einen Nachfolger gebe, der sich hier um die Frühchen kümmern könnte, zuckt sie die Achseln.  „Nein, das ist das andere Problem. Ich sehe da niemanden. Es gibt keinen jungen Arzt in diesem Krankenhaus, wir haben noch nicht einmal Praktikanten. Wir haben seit Jahren massive Probleme und finden keine Ärzte für die Kleinsten. Das war schon immer so.“

Ihr Kollege Jerzy Walecki im Warschauer Krankenhaus des Innenministeriums sieht das genauso. Er hat die 70 gerade überschritten, er arbeitet nach wie vor zehn Stunden am Tag. Auch seine Rente ist zu klein, auch er will weitermachen, weil er seine Patienten nicht im Stich lassen will. „Ein älterer Arzt ist erfahrener, empfindsamer und besitzt mehr Wissen“, ist sein Wahlspruch. Aber als wir ihn ebenfalls nach einem Nachfolger fragen, sagt er uns, wie prekär die Lage ist.“ „Tja, ich wollte das aus Scham eigentlich verschweigen. Aber es ist so: Wir haben keine Nachfolger. Wir leiden unter dem Mangel. Wir werden immer weniger. Die Jungen fahren weg. Die Krankenhäuser werden gezwungen, Rentner einzustellen.“

Arzt untersucht Patienten
Die meisten gut ausgebildeten Ärzte wandern ins Ausland ab | Bild: SWR

Auch auf seiner Station sehen wir nur wenige junge Gesichter wie diesen Arzt. Die meisten praktizieren längst an deutschen oder englischen Krankenhäusern. Und Dr. Walecki ist deswegen ziemlich aufgebracht. „Das ist so ungerecht. Wir haben die jungen Ärzte doch ausgebildet, und zwar umsonst. Sie haben keinen Zloty dafür bezahlt. Und danach gehen sie einfach ins Ausland. Alle finden irgendwo anders einen Platz. Sie sollten in Polen bleiben. Es ist einfach frustrierend. Ich verstehe ihre ökonomischen Gründe, sie kriegen im Ausland natürlich wesentlich mehr Geld. Aber ich nehme ihnen das übel. Das Leben ist so brutal.“

Das wollen wir genauer wissen. In der Universitätsklinik in Kattowitz haben wir uns am nächsten Morgen in der Onkologie mit drei jungen Studenten verabredet, die alle in diesem Jahr fertig werden. Und hier bestätigt sich die Befürchtung des Warschauer Radiologen. Alle – ohne Ausnahme – haben längst Auslandspläne, zum Teil schon mit gültigen Verträgen. Und Sprachprobleme gibt es auch nicht.  „Ja, also ich habe in Hannover ein Jahr studiert. Ich habe dort Deutsch gelernt“; sagt die Medizinstudentin Natalia Smyla. „Natürlich geht’s um das Finanzielle. Ich will später eine Familie gründen und nicht ständig mit materiellen Mängeln zu kämpfen haben. Ich lerne und studiere doch, um ein leichteres Leben zu haben. Und das lässt sich in Deutschland viel leichter erreichen als in Polen. Hier müsste ich eindeutig mehr arbeiten“, meint der Medizinstudent Dawid Szkudłowski. Und die Medizinstudentin Ariana Serain sagt: „Ich werde mich in Deutschland als Ärztin spezialisieren. Da bekomme ich eine Ausbildung auf hervorragendem Niveau. Ich werde eine gute Neurologin in Deutschland werden. Und dann sehen wir mal weiter.“

In Warschau löst die Rettungswache am Ende unserer Dreharbeiten Großalarm aus. Gleich mehrere Wagen werden zu einer Stelle geschickt, wo es heftig gekracht hat. Die Helfer und Ärzte haben mehr als genug zu tun. Diesmal kommen sie rechtzeitig. Aber das ist in Polen mehr vom Zufall abhängig. Denn in Europa hat nur Albanien weniger Ärzte als Polen. Und ein Drittel aller Mediziner hier ist älter als 60 Jahre. Gingen sie morgen alle in Rente, bräche das Gesundheitssystem sofort komplett zusammen.

Stand: 22.04.2014 13:48 Uhr

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