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Ukraine: An der Front

Häuserruine in der Donezk-Region
Häuserruine in der Donezk-Region  | Bild: dpa

In wenigen Tagen wollen die Präsidenten Russlands, Putin, und der Ukraine, Poroschenko, zusammen mit Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Hollande über Auswege aus der Ukraine-Krise beraten. ARD-Korrespondentin Golineh Attai war auf beiden Seiten der Front in der Ostukraine. Eine Reportage aus einem zerstörten Land. ARD Moskau

Dasha Korniienko singt für ihre Soldaten. Für die Ukraine. In einem Café in Kiew hat sie eine Spendenaktion für das Militär organisiert. Wo der Staat versagt, springen Freiwillige ein. Unsere Hilfe ist schnell, kommt von Herzen, sagen sie - und die Spenden versickerten nicht in korrupten Bürokraten-Händen. Auf dem Maidan, vor einem Jahr, demonstrierte Dasha - und lernte Vitaly kennen. Jetzt ist Vitaly an der Front. "Wir haben die ganze Ausrüstung für Vitaly gekauft, als er zur Armee wollte. Jetzt haben wir unsere Arbeit erweitert und kümmern uns um das ganze Regiment von ihm."

Soldaten tragen Hilfsgüter
Die Soldaten sind auf private Hilfslieferungen angewiesen  | Bild: SWR

Fahrt nach Mariupol. Die ganze Nacht war Dasha unterwegs. Sie weiß: Ohne die Hilfe der Freiwilligen hätten viele an der Front nichts zu essen. Nichts zu trinken. Keine warme Kleidung. Wiedersehen mit Vitali, 23, Geschichtsstudent. Ihr alter Maidan-Gefährte. Auspacken. An Bord sind Obst, Weihnachtsplätzchen, Munition und Ausrüstung, ein Ofen, ein Fernseher, Zigaretten und Medikamente. Die 54. Brigade freut sich über den Nachschub. Auf einem alten Bauernhof haben die Soldaten ihr Feldlager eingerichtet. Artillerie ist zu hören. Dasha hat eine ukrainische Fahne mitgebracht, die Soldaten sollen Botschaften darauf schreiben. Die Fahne will sie versteigern, das Geld für weitere Spenden benutzen. Jedes unserer Herzen ist eine Waffe, singt der Soldat. Dieser Krieg wurde uns aufgezwungen, sind sie überzeugt: Solange wir die russische Aggression aufhalten können, bleiben wir hier.

Und was ist mit dem Waffenstillstand? "Ich glaube rein gar nicht an das Minsker Abkommen", sagt der ukrainische Soldat Tsevdo Kobzar "Der Krieg wird nicht so schnell zu Ende sein wie wir wollen. Denn er bringt beiden Seiten einen Nutzen. Jeden Tag wird geschossen, jeden Tag gibt es Verletzte, und wir schweigen natürlich auch nicht." Ein Teil der Soldaten hat sich im Bataillon der rechtsextremen Gruppierung UNSO ausbilden lassen. Auch Vitalij Kuzmenko. " Das Training bei denen sei viel besser gewesen als woanders. "Von meiner Natur her bin ich Demokrat. Deswegen teile ich bestimmt nicht alle Werte dieser Gruppierung. Aber was mich anzieht, ist ihr Patriotismus, die Liebe zur Heimat. Ich wusste, dass diese Organisation früher an Kriegen gegen Russland teilgenommen hat und Erfahrung hat im Kampf gegen Russen."

Wir wechseln die Seiten. Ich muss mich von meinem ukrainischen Team verabschieden. Mit ihnen könnte ich nicht auf die andere Seite. Ab jetzt fahre ich mit einem deutschen Team weiter. Wir fahren - auf Eispisten - tief in den Osten, nach Lugansk, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Kontrollpunkte, die wir passieren, zählen wir nicht mehr. Es ist minus sechsundzwanzig Grad. Der Flughafen von Lugansk. Im September haben die Truppen jener, die hier für ein, wie sie sagen, "Neurussland" kämpfen, das Gebiet von den ukrainischen Truppen zurückerobert. Minensucher sind unterwegs. Warum ist dieses Gelände noch so wichtig, frage ich einen, der hier gekämpft hat. "Natürlich wollen wir den Flughafen wieder aufbauen. Auf jeden Fall, das müssen wir, wir haben große Pläne, große Aufgaben zu bewältigen. Und dafür haben wir schon ein kleines Flugzeugteam, ein Flieger steht schon bereit."

Ukrainische Rentnerin
Rentnerin Ljubow Parlowna ist auf die Suppenküche angewiesen | Bild: SWR

Zu Lenins Füßen: Die Überreste einer Schlacht. Wir sind in Pervomaisk. Eine der am heftigsten beschossenen Städte. Vor dem Krieg lebten über 38.000 Menschen hier. Sie arbeiteten in Minen und Fabriken. Jetzt ist die Hälfte geflohen. Die einen sagen, die ukrainische Armee habe die Stadt bestraft. Die anderen meinen, die Neurussland-Kämpfer hätten sich in Wohngebieten verschanzt. Nicht einmal die zwei Krankenhäuser wurden verschont. Die Stadt ist Herrschaftsgebiet der Don-Kosaken. Ich kann mich nur mit einem Kämpfer fortbewegen, der nicht von meiner Seite weicht. Kommandant und Stadtherr Evgeni Ichenko verteilt ein Stück Brot. Seine Kämpfer haben Suppenküchen aufgemacht. Für viele die einzige Möglichkeit, nicht zu verhungern. Die Kosaken sind verärgert, dass die Rebellen von Lugansk die russischen humanitären Konvois lange nicht bis hierher durchließen. "Seit sechs Monaten bekomme ich keine Rente", klagt die Rentnerin Ljubow Parlowna. "Deswegen bin ich auf die Suppenküche angewiesen. Bei jedem Wetter muss ich es hierhin schaffen. Das Essen ist gut." Der Kämpfer ermahnt sie: Sie soll vor unserer Kamera nicht erzählen, dass auch noch ein ukrainischer Oligarch Hilfe schickt. Die alte Frau entschuldigt sich.

Zivilisten in einem Bunker
Zivilisten, die ihre Wohnung verloren haben müssen im Bunker ausharren | Bild: SWR

Zera ist der Liebling der Kosaken-Kämpfer. Zärtlich tätschelt Andrej Puschkin die Hündin. Wir treffen ihn in der Nachbarstadt Stachanov. Er sei für Waffen und innere Sicherheit zuständig, sagt er. Puschkin spricht Russisch wie ein Russe, ohne ukrainischen Akzent. Natürlich sei er nicht hier geboren, erklärt er. Aber dieses Land, das habe sein Großvater von Nazis gesäubert, im Zweiten Weltkrieg."Dieses Land hat einfach einen unschätzbaren Wert für mich", sagt Andrej Puschkin, stellvertretender Kommandeur Don-Kosaken-Regiment. "Und deshalb bin ich hier und habe ich Waffen in meinen Händen. Einen Staat können wir hier nur aufbauen, nachdem wir ganz Neurussland befreit haben." Solange die einen für ihre Ahnen kämpfen, müssen die anderen hier ausharren, unter der Erde. Großmütter, ledige Mütter, Kinder in einem Bunker in Pervomaisk. Die Luft ist schwer von Kohle. Walentina Wasiljewna verlor ihre Wohnung vor einem Monat, als eine Rakete in ihrem Haus einschlug. "Ich glaube, den Hass hier, den haben nur die Politiker entfacht. Das können nur sie fertig bringen. Hier hat man doch immer friedlich gelebt. Russen und Ukrainer. Selbst in einer Wohnung, zusammen. Diesen Hass hatten wir früher nicht." Sie sind Gefangene des Krieges. Zermürbt und mürbe. Vergessen und verdrängt.

Autorin: Golineh Atai

Stand: 12.01.2015 12:01 Uhr

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