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Ukraine: Im Schatten von Nahost

PlaySanitätssoldaten mit Trage bei Krankenwagen
Ukraine: Im Schatten von Nahost | Bild: SWR

Während die Weltöffentlichkeit derzeit vor allem auf Gaza und Israel blickt, scheint Russland fast unbemerkt seinen brutalen und verlustreichen Krieg gegen die Ukraine zu intensivieren. In der Frontstadt Awdijiwka war die ARD-Korrespondentin Susanne Petersohn mit ukrainischen Sanitätern unterwegs. "Die Russen verwenden die gleichen Waffen wie vorher auch. Es ist nur so, dass sie sie aktuell in größeren Mengen einsetzen." Das sagt Dmytro. Immer mehr Verletzte müssen sie versorgen, Pausen gibt es nicht mehr.

Sanitäter im Dauereinsatz

Im Schutz der Bäume warten sie auf ihren nächsten Einsatz. Die Front ist sehr nah. Lange sind die Pausen selten, bis die Sanitäter wieder ausrücken, Verletzte aus der Kampfzone übernehmen. "War das eine Drohne?" fragt Sanitäter Dmytro. "Nein, es war ein Artillerie-Geschoss. Wir haben uns in den Eingang zum Unterstand gestellt, das hat uns gerettet … Der Kleine saß daneben … ist der Kleine noch dort." "Nein, er ist im Fahrzeug hinter uns. Er wurde rausgeholt." Ihr habt ihn rausgeholt?" "Ja, wir haben ihn."

Verletzter Soldat wird in Krankenhaus behandelt
Immer mehr Verletzte müssen versorgt werden | Bild: SWR

Dmytro und seine Kollegin bringen die Schwerverletzten in ein kleines Krankenhaus. Hier werden sie medizinisch stabilisiert. Erst dann können die Soldaten in besser ausgestattete Kliniken gebracht zu werden. In den vergangenen Wochen sind die Angriffe der russischen Truppen heftiger geworden – besonders hier, rund um die umkämpfte Stadt Awdijiwka. Immer mehr Verletzte müssen die Sanitäter versorgen. "Die Russen verwenden die gleichen Waffen wie vorher auch", sagt Dmytro. "Es ist nur so, dass sie sie aktuell in größeren Mengen einsetzen." Auch die Zahl der Toten steigt. "Der Kleine" – wie seine Kameraden ihn nennen – hat es nicht geschafft. Ein weiterer Toter in der grausamen Statistik. Offizielle Zahlen zu Toten und Verletzten wird uns hier niemand nennen: Es könnte dem Feind nutzen und die eigenen Truppen demoralisieren. Schätzungen gehen von mehreren Hundert am Tag aus – wohl aber immer noch viel weniger als auf russischer Seite. Zahlen, die sich nicht überprüfen lassen.

Intensive Kämpfe um Awdijiwka

Die Kämpfe werden heftiger. Seit Wochen noch intensiver, merken die Soldaten dieser Panzereinheit nahe Awdijiwka. Sie reparieren hier kaputte Panzer ihrer Einheit. Was sie uns erzählen, ist bemerkenswert: Seitdem die Terror-Organisation Hamas Israel überfallen hat, würde die russische Armee mehr Druck auf Awdijiwka ausüben. "Es fühlt sich so an, als ob sie versuchen, den Moment auszunutzen. Sie spekulieren darauf, dass die Vereinigten Staaten und ihre Partner nicht genug Kraft haben, um auf zwei Seiten zu kämpfen. Deshalb, und das ist meine persönliche Meinung, denke ich, dass die Russen gerade heftiger angreifen. Die Intensität der Kämpfe, gerade jetzt, hat auf jeden Fall zugenommen."

Panzer wird repariert
Die ukrainischen Truppen stehen unter Druck | Bild: SWR

Was sie uns bei der ukrainischen Panzereinheit erzählen, deckt sich auch mit der Analyse internationaler Beobachter. "Das übergeordnete Ziel der russischen Armee hat sich ja nicht verändert", sagt Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Das russische Ziel ist immer noch, die Ukraine letztlich als eigenständigen Staat auszulöschen und abzuschaffen. Hier, bei der aktuellen Offensive scheint es darum zu gehen, dass sie noch einen wichtigen Knotenpunkt mit Awdijiwka einnehmen, dass sie möglicherweise auch Überwinterungsquartier haben."

Awdijiwka steht im militärischen Fokus Russlands. Eine strategisch wichtige Stadt für Putins Armee, fast vollständig zerstört, aber noch nicht umzingelt. Vitalii Barabash ist Bürgermeister dieser Stadt, die kaum noch existiert. Vor Beginn des russischen Angriffskriegs lebten rund 30.000 Menschen in Awdijiwka – jetzt sind es etwa 1.600. Doch warum harren diese Menschen aus, warum sind nicht auch sie geflüchtet? "Man muss die ukrainische Mentalität verstehen: Mein Haus ist meine Festung, selbst wenn es bis auf die Grundmauern zerstört ist. Diese Menschen leben dann eben in ihren Kellern."

Es leben kaum noch Menschen in Awdijiwka

Nur noch wenige trotzen der ständigen Bedrohung. Sie ist kaum auszuhalten sagen Genadij und Dima. Sie gehören zur Polizeisondereinheit "Weiße Engel". Und sie sind die einzigen beiden, die überhaupt noch den Menschen aus der völlig zerstörten Stadt helfen. "Jede Woche bringen wir Brot. Und humanitäre Hilfe liefern wir auch jede Woche", sagt Genadij. "Außerdem evakuieren wir Menschen. Wir bringen also humanitäre Hilfe, evakuieren Verletzte, stellen medizinische Dienste bereit und leisten manchmal auch erste Hilfe." Begleiten dürfen wir sie nicht. Ihre Mission ist gefährlich: Genadij und Dima filmen selbst. Nur noch eine einzige Straße führt durch ukrainisch kontrolliertes Gebiet nach Awdijiwka. Die steht ständig unter russischem Beschuss. Russlands Stellungen sind nur wenige Kilometer entfernt. Es gibt keinen Fleck in Awdijiwka, der noch sicher ist. Was ihnen auf ihrer Mission hilft, fragen wir. "Glück", sagt Genadij. "Das sind Glücksbringer … Das sind Hasen, die weich sind, sozusagen Anti-Stress. Wir geben sie den Kindern, die wir evakuieren und haben auch welche für uns." Und Dima sagt: "Dieser Glücksbringer wurde mir von einem Anwohner geschenkt, damit es mich beschützt. Am selben Tag kamen wir unter Beschuss und vielleicht hat es mich beschützt." Heute bringen die beiden Polizisten wieder Brot und Lebensmittel und sie wollen sie drei Bewohner aus Awdijika holen.

Zwei Polizisten einer Sondereinheit
Die "Weißen Engel" helfen den Menschen in Awdijiwka | Bild: SWR

Von der Industriestadt ist kaum noch etwas übrig. Die russischen Truppen scheinen um jeden Preis Awdijiwka einzunehmen zu wollen, um weiter in den Donbas vorzurücken. Genadij und Dima haben es rein geschafft, nach Awdijika. Sie verteilen Lebensmittel Erst sieben Stunden später sehen wir sie wieder. Sie bringen Bilder aus einer völlig zerstörten Stadt mit – und Halyna, Oleksandr und Ihor. "Ich hatte so gehofft.... Und jetzt ist alles vorbei, die Wohnung ist weg", klagt Galina. "Erst der Balkon, dann das Schlafzimmer. Die Ecke des Hauses ist weg. Alles ist abgebrannt." "Hier habe ich gewohnt. Im 9. Stock", sagt Ihor. "Ich im vierten Stock", meint Galina. Und Ihor sagt: "Die weißen Engel retten Leben. Gott gebe ihnen Gesundheit, damit es mehr von solchen Menschen gibt."

Für die Drei geht es jetzt erstmal weiter in eine Notunterkunft. Und danach in die nächstgrößere Stadt: Dnipro. Dort haben Galina und Aleksandr Familie. Ihor hofft, Arbeit zu finden. Erleichterung bei ihren Rettern. Worauf sie sich an diesem Abend freuen, fragen wir. "Um ehrlich zu sein, haben wir noch nicht zu Mittag gegessen", sagt Genadij. "Wir werden jetzt zu Mittag und zu Abend essen." "Und ich? Ich brauche auch erst einmal etwas zu essen", sagt Dima. "Der Haushalt muss gemacht werden. Wie es jeder Mensch nach der Arbeit tut. Ich werde nichts Besonderes tun." Beim Verabschieden fragen wir noch, warum sie das alles tun: Sich jeden Tag in solche Gefahr begeben. Weil Awdijiwka immer noch unsere Stadt ist, sagen sie. Und weil wir Polizisten sind: Wir haben versprochen, für diese Menschen da zu sein.

Autorin: Susanne Petersohn, ARD-Studio Kiew

Zu diesem Thema gibt es auch den Weltspiegel-Podcast: "Im Schatten von Nahost: Russlands Offensive in der Ukraine." Redaktion: Nils Kopp, Moderation: Philipp Abresch. In der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.

Stand: 05.11.2023 21:45 Uhr

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