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Ukraine: Social-Media-Spioninnen

PlayLogos verschiedener Apps, u.a. Telegram und Twitter, auf Bildschirm eines Smartphones
Ukraine: Social-Media-Spioninnen | Bild: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Fernando Gutierrez-Juarez

Als russische Soldaten ihre Heimat überfallen, beschließt die 18-Jährige Katya gemeinsam mit Freundinnen Informationen über die Besatzer zu sammeln. "Wir haben uns auf Dating-Plattformen registriert und dann einfach Fotos von russischen Jungs in Militäruniform gesucht. Wir haben ein 'Like' gesetzt, damit wir eine Antwort bekommen, dass ihm unser Profil auch gefällt und wir haben angefangen zu kommunizieren, uns kennenzulernen." Es ist erstaunlich wieviel Menschen im Netz über sich preisgeben. Truppenbewegungen, Stellungen der russischen Armee, vieles erzählen die Soldaten in den Chats. Der ukrainische Geheimdienst wertet die Informationen aus. Informationen die ihre "kleinen" Spioninnen besorgt haben.

Kontaktaufnahme mit dem Feind

Artyom: "Was machst Du?" Katya: "Ich höre Musik. Und Du?" Es klingt harmlos, aber dieser Chatverlauf hat es in sich. Beide Absender sind in der Ukraine. Er ist russischer Soldat. Katya, das ist nicht ihr echter Name, ist Ukrainerin. Sie gibt sich als Russin aus. Als Russin, die auf Soldaten steht. "Ich wollte wissen, was sie in unserem Gebiet tun, wie sie sich verhalten", sagt Katya. "Nicht nur in der Region Cherson, sondern auch in den Regionen Saporischschja und Donezk."

Hand hält Smartphone
Ukrainische Frauen gaben sich als Russinnen aus | Bild: SWR

Als russische Soldaten ihre Heimat Cherson, im Süden der Ukraine, überfallen und besetzt halten. Als sie zerstören, plündern, töten, will Katya helfen. Die 18-Jährige beschließt, gemeinsam mit Freundinnen Informationen über russische Soldaten zu sammeln. Heute lebt sie hier, in der Westukraine. Der Krieg hat sie aus der Heimat vertrieben, die sie nicht aufgeben will. "Wir haben uns auf Dating-Plattformen registriert und dann einfach Fotos von russischen Jungs in Militäruniform gesucht. Wir haben ein "Like" gesetzt, damit wir eine Antwort bekommen, dass ihm unser Profil auch gefällt und wir haben angefangen zu kommunizieren, uns kennenzulernen."

Über Dating-Plattformen und Apps wie Telegram schreibt Katya gezielt über einhundert russische Soldaten an, verwickelt sie teils über Monate in Online-Gespräche, gewinnt ihr Vertrauen, flirtet zum Schein mit dem Feind. "Manchmal war ich so wütend, dass ich mich übergeben wollte. Wie bin ich auf diese Idee gekommen? Ich weiß es nicht. Ich dachte, dass sie irgendwie wirklich ihre Standort-Koordinaten verraten würden. Das wäre nunmal nützlich. Und wie meine Erfahrung zeigte, erwies sich meine Arbeit als nützlich." Die russischen Soldaten teilen ihren Alltag, aber auch sensible militärische Daten über Chat- und Sprachnachrichten mit ihr: "Es war Wahnsinn. Wir haben uns betrunken und bekifft geschossen. Wir brannten Schnaps, während wir in den Häusern im Dorf stationiert waren." Oder: "Kürzlich sind unsere Artilleristen eingetroffen, eine Brigade von 300 Mann. Wir nennen sie 300 Spartaner."

Über Social Media geben Soldaten Informationen preis

Katya gibt diese Informationen an die ukrainischen Geheimdienste – und die nehmen sie gerne. "Wenn eine Person aus eigener Initiative zustimmt, Daten sammelt und diese Daten an die ukrainischen Geheimdienste, die Regierung oder die Streitkräfte übermittelt, werden diese Informationen natürlich sorgfältig geprüft, und viele Informationen sind wirklich nützlich", sagt Andrii Yusov vom Nachrichtendienst des Verteidigungsministeriums der Ukraine. Im Netz geben die Menschen Unmengen von Informationen über sich preis – auch Soldaten an der Front. Deshalb scannen Geheim- und Nachrichtendienste Chats, Apps, Mobildaten – eben alles. "Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird als der erste Online-Krieg bezeichnet. Dazu gehören auch die Dating-Seiten. Daher wäre es seltsam, wenn die Ukraine nicht alle Instrumente nutzen würde, um sich gegen den völkermörderischen Krieg der Russen zu schützen." Er betont: Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer schicken Bild- und Videomaterial an die Behörden.

Smartphone-Display mit angezeigter Karte
Eine speziell entwickelte Software wertet die Informationen aus | Bild: SWR

So viele, dass das ukrainische Ministerium für Digitale Transformation im vergangenen Jahr eine eigene Software entwickelt hat, um die Informationen auszuwerten. "Damit können die Menschen leicht Informationen über die Bewegung des Feindes, über ihre Flugzeuge, die Platzierung von Ausrüstung und andere Dinge weitergeben", so Mstyslav Banik vom Ministerium für digitale Transformation Ukraine. Nach eigenen Angaben hat das Ministerium aus all den Infos der Zivilisten knapp 500.000 Berichte zu möglichen militärischen Zielen zusammengestellt. Das hilft den ukrainischen Streitkräften, ihre Einsätze zu planen. "Die Nachfrage der Streitkräfte der Ukraine ist konstant. Und immer wieder werden wir gebeten, die Informationen zu aktualisieren. Über die Radarausrüstung der Russen zum Beispiel, um die Ukraine effektiver zu schützen."

Warten auf den Tag der Befreiung

Auch Victoria hat die ukrainische Regierung mit Informationen über russische Soldaten versorgt. Sie ist Journalistin in der südukrainischen Stadt Mykolajiw. Direkt an der Front. "Wir waren im Prinzip die einzige Verbindung zwischen Menschen, die unter Besatzung standen oder irgendwo waren, wo es Russen gab und den Geheimdiensten, denen wir diese Informationen übermitteln konnten. "Für solche Informationen begeben sich Zivilisten immer wieder in Gefahr, ganz besonders in den von Russland besetzten Gebieten. Die russischen Soldaten und Söldner gelten als brutal. Inzwischen wurden zahlreiche Folterkammern für ukrainische Zivilisten entdeckt. Hinzu kommt, dass niemand weiß, wem man trauen kann und wem nicht. "In Mykolajiv gab es eine Menge Kollaborateure, Spione und so weiter. Wir wussten nicht, wo sie sind und mit wem sie arbeiten. Es war beängstigend. Hinzu kommt, dass ich ein Kind habe." Trotz allem: Victoria hält es für ihre Pflicht, zu helfen. Ihre Recherchefähigkeiten als Journalistin einzusetzen.

Im Krieg zerstörte Fahrzeuge
Die Informationen sollen helfen, den Krieg schneller zu beenden  | Bild: SWR

Auch im Dorf Blahodatne, in der Region Cherson, gaben Bewohner während der Besatzung Informationen heimlich an das ukrainische Militär weiter. Auch sie hatten Angst, entdeckt zu werden. Aber auch davor, in die Kampflinie zu geraten. "Einmal haben wir unsere Leute inständig gebeten, nicht genau preiszugeben, wo die Russen stationiert sind", sagt Ira. "Denn wir haben kapiert, wie nah wir an ihren Stellungen wohnten, und dass wir getroffen werden könnten, wenn unsere Leute die Russen beschießen. "Aber Ira weiß: Ohne solche Informationen, wäre das Dorf, in dem sie lebt, vermutlich immer noch unter russischer Besatzung. Und der Tag der Befreiung, das sagt sie, war ihr glücklichster Tag.

Ein Tag, den sich auch Katya für die ganze Region Cherson wünscht. Ein Teil ist immer noch unter russischer Besatzung und weite Teile stehen unter heftigem Beschuss. Katya hofft, dass sie bald in eine friedliche Heimat zurückkehren kann. "Dann werde ich zuerst zu meinem Zuhause gehen, zu meinen Großeltern. Ich werde meine Sachen dorthin bringen und nach dem Rechten sehen. Ich weiß nicht. Ich werde durch die Stadt laufen. Vielleicht werde ich weinen. Weil... Einfach so. Ich will mich mit Freunden treffen, das ist sicher." Katya weiß nicht, wie viele ihrer Informationen zu direkten Angriffen auf diejenigen geführt haben, denen sie sie entlockt hat. Aber sie hat geholfen, das ist ihr wichtig, sie hat getan, was sie konnte, um die Eindringlinge aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Autorin: Susanne Petersohn, ARD-Studio Kiew

Der Weltspiegel Podcast "Swipe rechts in den Tod? Dating-Apps zur Spionage im Ukrainekrieg" in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.

Stand: 21.05.2023 22:06 Uhr

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