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Türkei: Im Visier der Justiz

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Türkei: Im Visier der Justiz | Bild: Anadolu Kültür

Fahrt zum Hochsicherheitsgefängnis Silivri, bei Istanbul: Türkische Künstler wollen für Osman Kavala Solidarität zeigen. Kavala sitzt seit fast 450 Tagen in Untersuchungshaft. Bisher gibt es keine Anklageschrift. Familie und Freunde vermuten aufgrund von Berichten regierungsnaher Medien, dass der Staat ihm Terror- und Umsturzvorwürfe macht. An einer Raststätte kurz vor Silivri schreiben ihm alle kurze Botschaften, die ein Anwalt Kavala im Gefängnis übergeben wird.
Asena Günal sagt: "Ich habe ihm geschrieben, dass wir ihn sehr vermissen. Und es ist mein Wunsch für 2019, dass wir uns wiedersehen."

In Silivri sitzen viele Oppositionelle in Haft. Auch der Journalist Deniz Yücel wurde hier ein Jahr festgehalten. Auf dem Gefängnisparkplatz muss alles schnell gehen: Filmen geht nur mit dem Handy. Dann kommt ein Gendarm und erklärt, hier könne keine Kundgebung stattfinden, Aufnahmen seien verboten.

Gründer von Anadolu Kultur

Osman Kavala stammt aus einer Industriellenfamilie. Er hat das Anadolu Kultur-Institut gegründet und einen großen Teil seines Vermögens in dieses gesteckt. Das Institut arbeitet trotz Kavalas Inhaftierung weiter. Anadolu Kultur finanziert Kunstprojekte und setzt sich für Völkerverständigung und Menschenrechte ein. Der türkische Staatspräsident Erdogan behauptet jedoch Kavala sei ein Agent: "Über einen von denen, die wegen Agententätigkeit festgenommen wurden, wird gesagt, er sei Gründer einer zivilgesellschaftlichen Organisation, er sei ein guter Mensch und ein guter Landsmann. Mit solchen Beschönigungen versucht man nur von seinem eigentlichen Ziel abzulenken."
Kavalas Ziel, so Erdogan, sei der Umsturz der türkischen Regierung. Kavala habe die anfangs friedlichen Gezi-Proteste im Jahr 2013 in Istanbul mitinitiiert und mitfinanziert. Diese schlugen später in Gewalt zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten um.

Kavalas Frau, Ayse Bura-Kavala, und Asena Günal, Leiterin des von Kavala gegründeten Anadolu Kultur-Instituts, entgegnen, Osman Kavalas einziges sei das Brückenbauen zwischen Menschen. Dafür habe er zum Beispiel in Istanbul dieses Kulturzentrum geschaffen. Ayse Bura-Kavala: "Wir haben abstruse Anschuldigungen und Vorwürfe gehört, ohne dass man überhaupt versucht hätte, irgendeinen Beweis oder Fakten zu liefern. Es waren allesamt Anschuldigungen, wie etwa die Kooperation mit ausländischen Mächten, um die Regierung zu stürzen oder die Gezi-Proteste zu finanzieren und zu organisieren."

Abstruse Vorwürfe

Kavalas Anwalt Ilhan Koyuncu hält vor allem Erdogans Vorwurf der Finanzierung der Gezi-Proteste für absoluten Humbug: Kavala habe als Person an den Protesten teilgenommen, doch allein die Idee, man könne ein Ereignis von solchem Ausmaß finanzieren, sei abstrus: "Bei der Verhaftung von Osman Kavala habe ich das auch zum Richter der Strafkammer gesagt. Wie soll man Gezi finanzieren können? Was kostet die Finanzierung von Gezi? Wenn sie einen Menschen mit einer Finanzierung beschuldigen, müsse man sagen können: Gezi ist mit so viel Geld finanziert worden und Osman Kavala hat von dieser Finanzierung diesen Anteil übernommen. Sie müssen etwas Konkretes sagen."

Tatsächlich finanziert Kavalas Institut Kulturprojekte mit verschiedenen europäischen Partnern. So trifft Asena Günal regelmäßig Reimar Volker, den Leiter des Goethe Instituts in Istanbul. Nach Kavalas Festnahme, stellen regierungsnahe türkische Medien das Goethe-Institut an den Pranger, meint Asena Günal: "Wenn sie uns ins Visier nehmen, dann nehmen sie auch europäische Kulturinstitute ins Visier. Vor allem nach unserem Vorfall, wenn man regierungsnahe Medien ansieht, dann kann man Nachrichten oder Kommentare zu unserer Zusammenarbeit mit europäischen Kulturinstituten lesen, die ebendiese Institute kriminalisieren."
Reimar Volker sagt, bisher habe das Goethe-Institut keinerlei Einschränkung durch den türkischen Staat hinnehmen müssen. Dennoch mache er sich Gedanken um seine türkischen Mitarbeiter: "Da gibt es eine grundsätzliche Sorge, die auch geprägt ist von der Gesamtstimmung im Land hier, wo man merkt, dass alles, was mit Zivilgesellschaft zu tun hat, unter Beobachtung steht."

In diesem Gebäude in Istanbul war bis vor kurzem das Büro der Stiftung Open Society des ungarischen Milliardärs George Soros. Anadolu Kultur arbeitete mit der Open Society Stiftung bei zivilgesellschaftlichen Projekten eng zusammen. Im November beschuldigt Erdogan Kavala und Soros, gemeinsam für die Gezi-Proteste verantwortlich zu sein: "Können Sie sich das vorstellen: Derjenige, der bei den Gezi-Protesten die Terroristen finanziert hat, der sitzt momentan im Gefängnis. Und wer steckt hinter ihm? Der berühmte ungarische Jude Soros."

Inzwischen hat die Open Society-Stiftung die Türkei verlassen. Nicht nur die türkische Regierung sieht George Soros‘ Einsatz für Menschenrechte offenbar als Bedrohung, wie Ayse Kavala erklärt: "In Ungarn und in der Türkei wird er als gefährlicher Jude dargestellt. Aber auch in Israel ist er eine Feindfigur. Allein wenn sein Namen genannt wird, kommt der Gedanke auf, es wird ein Verbrechen gegen den Staat begangen."

Am 14. November wurden Asena Günal und weitere Kulturschaffende aus Kavalas Umfeld wegen des absurden Vorwurfs Mitgliedschaft in einer Organisation festgenommen. Bis auf einen kamen alle am selben Tag wieder frei. Asena Günal, Anadolu Kultur: "Das ist natürlich eine Methode, klar zu machen: wenn ihr ähnlichen Aktivitäten nachgeht, dann kleben wir an euch dran; wir werden euch mit unserer Polizei und unserer Justiz bestrafen."

Der türkische Staat setzt auf das System Angst und hat damit zunehmend Erfolg.

Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul

Stand: 12.09.2019 22:51 Uhr

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