So., 28.02.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Italien/Estland/Ägypten: Schule im Corona-Alltag
Ein Virus verschärft eine globale Bildungskrise. Corona verstärkt die Ungleichheit beim Zugang zur Bildung. Schulschließungen weltweit, sie treffen vor allem benachteiligte Mädchen und Jungen – Beispiel Ägypten.
Ägypten: Homeschooling in der Hinterhofschule
Im Nildelta 130 Kilometer von Kairo entfernt sind die Schulen geschlossen, wie im ganzen Land. Damit wollte sich die zwölfjährige Reem nicht abfinden, deshalb schnappt sie sich an fünf Tagen in der Woche eine Tafel – denn Homeschooling kann hier keiner machen. Kaum jemand auf dem Land hat Internetzugang. Digital ist maximal der Satellitenempfang, deshalb greift Reem zu analogen Mitteln. Eine Tafel, zwei Nägel an der Hauswand, ein Teppichboden und dann kann es losgehen. Pünktlich zur Mittagszeit kommen die jüngeren Kinder aus dem Ort Etmida zu Reems Hinterhofschule. "Ich war traurig. Die Kinder ohne Schule. Sie hätten vergessen was sie gelernt haben. Also entschied ich mich sie in Arabisch, Mathe, Religion und Englisch zu unterrichten", sagt Reem, die selbst noch Schülerin ist.
Unterbrechungen gibt es hier allerdings auch, wenn zum Beispiel die Nachbarn vom Gemüsemarkt kommen. Die Kinder lassen sich aber nicht wirklich ablenken. Begeistert lösen sie die Matheaufgaben. "Reem ist die Beste. Die Lehrer in der Schule erklären alles nur einmal und ich kam nicht mit", erzählt ein Mädchen. Disziplin durchzusetzen war für Reem anfangs nicht so leicht, aber dann hatte sie eine Idee – da kommen nur Kinder drauf: "Ich sagte denen: Seid still! Naja, ich habe Süßigkeiten verteilt und dann waren sie still." Was Reem im Hinterhof gelernt hat, ist jetzt ihr Berufsziel: Lehrerin.
In kaum einem anderen europäischen Land waren die Schulen wegen der Pandemie so lange geschlossen wie in Italien. Das hat negative Folgen für viele: Angstzustände, Bildungslücken, Schulabbrüche.
Italien: Schüler fordern bessere Perspektiven
In ganz Italien sind in den letzten Wochen Schülerinnen und Schüler auf die Straße gegangen. Für ihr Recht auf Schule, Bildung und Zukunft. "Wir fühlen uns auf den Arm genommen und vernachlässigt, denn keiner merkt wirklich, wie belastend das Ganze auch psychisch für uns ist. Wir wollen wieder normalen Unterricht", sagt eine Schülerin. Als Italien vor gut einem Jahr in den strengen Lockdown ging, waren viele Schüler von einem Tag auf den anderen auf sich gestellt. Ohne ausreichende technische Ausstattung und persönliche Ansprache. Wenn Marina di Foggia morgens durch ihre Schule im Zentrum Roms geht, spürt sie die Leere sehr. Keiner rennt über die Flure, kein Kinderlachen, es fehlt die übliche Geräuschkulisse. "Zur Schule zu kommen und die Stimmen der Kinder nicht zu hören, ihren Augen nicht zu begegnen, bedeutet, die Zukunft um mich herum nicht zu spüren, weil sie unsere Zukunft sind – die zukünftige Gesellschaft. Das macht mich zutiefst traurig", erzählt die Schulleiterin.
Inzwischen gibt es zwar wieder Präsenzunterricht, aber nicht überall und nicht für alle Klassen. Viele müssen immer noch alleine zu Hause lernen und kommen damit nicht zurecht. 34.000 Schülerinnen und Schüler gelten als gefährdet, die Schule abzubrechen. Veronica Articoni hat es schon getan. Zu Hause haben sie nur einen Computer, sind aber vier Geschwister, dann gab es noch Probleme mit dem Internet. Und niemand konnte ihr sagen, wie es weitergeht. "Ich fühlte mich mehr als allein gelassen. Ich hatte Angst. Wir wussten nicht, was danach kommen würde und ob wir überhaupt unseren Abschluss machen können oder einfach fünf Jahre Lernen in Rauch aufgegangen sind", sagt sie.
Jetzt arbeitet Veronica in einem Kindergarten. Dass sie ohne weiterführende Schule kaum eine Perspektive auf einen Job hat, weiß sie. Und damit geht es ihr wie tausenden Anderen. Italien liegt wirtschaftlich am Boden und bereits jetzt sind 20 Prozent der Jugendlichen ohne Aussicht auf einen Job, bis Ende des Jahres sollen es 30 Prozent sein – drei Mal mehr als der europäische Durchschnitt.
Neue Unterrichtsformen müssen her: Digital und auf Distanz. Während viele Länder daran einfach scheitern, zeigt Estland, wie Digitalisierung geht. Das Land, das den Zugang zum Internet als Grundrecht erklärt hat.
Estland: Digital, abwechslungsreich und flexibel
Seit vielen Jahren sind sie in Estland digitale Spitze. Steuererklärung, Parlamentswahlen, öffentlicher Dienstleistungen – hier geht alles per Mausklick. Da mag es kaum verwundern, dass die Balten auch im Klassenzimmer ein paar Schritte weiter sind als viele europäische Nachbarn. Das Gymnasium von Jüri bei Talinn. Die 7e bereitet sich auf den Geschichtsunterricht vor und bleibt heute allein im Klassenzimmer. Lehrerin Sirle Reinholm hatte einen Corona-Kontakt und unterrichtet deshalb von zu Hause. Die Schüler hat sie per Webcam im Blick. "Wenn die Kinder zu Hause am eigenen Computer sind und die meisten dann ihre Kameras nicht einschalten, bin ich nicht sicher, wie viel sie eigentlich lernen. Für mich ist die Lernqualität besser, wenn sie in der Klasse sind", sagt die Lehrerin.
Egal ob im Klassenzimmer oder von zu Hause: Mit ihren Smartphones sind die Schüler mit verschiedenen Lernplattformen verbunden. Der Unterricht ist spielerisch und interaktiv. "Mir passt diese Art und Weise. Es ist ja auch langweilig, wenn man die ganze Zeit zu Hause ist", erzählt Markus, ein Schüler. Früh haben sie hier gelernt, die digitalen Möglichkeiten zu nutzen. Das zahle sich nun in der Corona-Pandemie aus, so Unterstufenleiterin Eva Viidemann: "Der Übergang funktioniert sehr schnell. Wir machen das innerhalb eines Tages. Als wir die Schule komplett auf Distanzunterricht umstellen mussten, haben wir das in zwei Stunden geschafft." Diese Flexibilität des Unterrichts komme bislang gut an bei Schülern, Eltern und Lehrer. Auch deshalb sind sie sich hier sicher, dass der Unterricht auch nach Corona digital und variantenreich bleiben wird.
Das Dilemma bleibt: Gesundheitsschutz und Recht auf Bildung. Millionen Schüler weltweit – monatelang ohne Lernmöglichkeiten. Die Folgen werden noch lange zu spüren sein.
Autoren: Alexander Stenzel/Anja Miller/Christian Blenker/Philipp Wundersee
Stand: 28.02.2021 19:49 Uhr
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