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Sudan: Ein Jahr nach der Revolution – die neue Freiheit der Frauen

PlaySingene Frauen, einige zeigen das Victory-Zeichen
Sudan: Ein Jahr nach der Revolution – die neue Freiheit der Frauen  | Bild: NDR

Bayan boxt für ihr Leben gern. So lässt sie Frust, Wut und Trauer raus. Und davon hat sich bei ihr über die Jahre einiges angestaut. Ende 2018 geht sie in Khartum gegen das alte Regime und für einen Neuanfang auf die Straße. Um sich als Frau gegen Übergriffe schützen zu können, fängt die 21 Jahre alte Medizinstudentin mit Thaiboxen an. "Der Sudan ist ein Land, das noch nicht sicher ist. Frauen werden belästigt. Ich will in der Lage sein, zurückzuschlagen, mich selbst verteidigen zu können", sagt sie.

Für Trainer Mohamed El Mounir ist jeder und jede auf der Matte gleich. 2018 öffnete die Türen seines Kampfsportzentrums auch für Frauen, damit sie besser durchs Leben kommen in dem islamisch geprägten Land. Bis vor Kurzem hätten der Trainer und seine Schülerinnen dafür ausgepeitscht werden können. "Es war einem Mann im Sudan verboten, Frauen zu trainieren. Wir mussten deshalb zunächst heimlich trainieren, die Türen geschlossen halten", erinnert sich Mohamed El Mounir.

Es hat sich viel getan im Sudan: Frauen haben ihre traditionelle Rolle im Haus hinter sich gelassen, gehen raus, haben Jobs, manche sind Ministerinnen. Sie waren die treibende Kraft der Protestbewegung. Bis heute singen sie ihre Revolutionslieder. Um das Erreichte zu bewahren, haben sie sich zusammengetan– Ärztinnen, Ingenieurinnen, Musikerinnen. Sie nennen sich "Wächterinnen der Revolution", kämpfen bis heute gegen das alte Establishment.

"Wächterinnen der Revolution" kämpfen für Frauenrechte

Bayan im Interview.
Bayan boxt für ihr Leben gern. | Bild: NDR

Mit Massenprotesten erzwingen sie im April 2019 den Sturz von Langzeitherrscher Baschir. Doch die Militärjunta schlägt zurück. Sicherheitskräfte lösen ein Protestcamp gewaltsam auf. Mit vielen Toten und Verletzten. Sie aber lassen nicht locker. Bis eine neue Regierung aus Militärs und Opposition im Amt ist. Auch ein Jahr später halten sie den Druck hoch, kämpfen weiter für ihre Rechte, zeigen Solidarität mit Frauen in Not. Alia Gamil ist Aktivistin der ersten Stunde. Die Mutter und Psychologin lebt Emanzipation und Frauenpower. "Gerade in Zeiten von Corona helfen wir Teeverkäuferinnen, Putzfrauen und anderen Frauen, die auf Hilfe dringend angewiesen sind. Der Staat lässt sie im Stich", sagt sie.

Mit Geld von Spendern haben sie kleine Pakete geschnürt. Darin Lebensmittel, Desinfektionsmittel, Schutzkleidung. Sie verteilen sie an Kliniken, in den Armenvierteln an Frauen, die wegen der Corona-Pandemie ihren Job verloren haben, jetzt auf der Straße stehen. Ehrenamtliches Engagement, um zu zeigen, dass ihre Revolution noch lebt.

Bayan kämpft auch zu Hause für ihre Rechte, ihre Leidenschaft, das Thaiboxen. Sie lebt bei ihrem Großvater. Ihre Eltern arbeiten im Ausland. Als sie zu einem Wettkampf in die Vereinigten Arabischen Emirate reisen wollte, stellte er sich quer. Ohne seine Zustimmung aber durfte sie nicht reisen. "Ich habe das abgelehnt, weil es den Traditionen dieses Landes zuwiderläuft. Das ist noch neu für uns. Außerdem ist sie doch so klein", sagt Großvater Zein El Abdin Serag El Din. Doch Bayan ließ nicht locker, reiste zum Wettkampf, holte den dritten Platz. Heute ist der Großvater stolz auf sie. Damals gab er erst nach langem Ringen nach.

Genitalverstümmelung soll verboten werden

Eine Frau und ihre Tochter auf einem Fahrrad.
Sport im Freien war bis vor Kurzem für Frauen noch verboten. | Bild: NDR

Alia genießt die neuen Freiheiten zusammen mit ihren drei Töchtern. Sie fahren Rad, gehen inlineskaten – selbstverständlich in Hosen. Vor Kurzem noch war das Frauen im Sudan verboten, ebenso wie Sport im Freien. "Sie lieben es, Rad zu fahren, zu skaten. Andere Mädchen halten das für zu gefährlich. Für sie ist das okay. Diese Generation ist mutig. Vielleicht haben sie das auch von mir", sagt Alia Ali Youssef Gamil.
Eine Nachricht, die Alia besonders bewegt hat: Die Genitalverstümmelung soll verboten werden. Die meisten Mädchen im Sudan mussten die lebensgefährliche Beschneidung bislang über sich ergehen lassen, auch sie selbst. Ihre Töchter aber bleiben von dem umstrittenen Ritus nun verschont: "Stellen Sie sich ein kleinens Kind vor, das nicht versteht, was passiert, aber furchtbaren Schmerz empfindet. Beim Urinieren, bei jeder Bewegung. Sie sind sehr eingeschränkt, beim Spielen und Rennen. Das ist ein Schock."

Es bleibt ein harter Kampf für gleiche Rechte, mit Rückschlägen und Verletzungen. Bayan aber ist entschlossen, ihn auch zu gewinnen. "Wir wollen nichts weniger als Gleichheit. Wenn ich trainiere, soll kein Mann mehr sagen, ich sei durchgeknallt. Es soll etwas Normales sein – so wie für sie Fussball."

Die Tabus fallen im Sudan. Und zurückweichen kommt für die Frauen hier nicht mehr in Frage – nach ihrem langen Kampf für Gleichheit, für Freiheit.

 Autor: Daniel Hechler, ARD-Studio Kairo

Stand: 19.07.2020 20:17 Uhr

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