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China: Essen in Shanghai - Zwischen Tradition und Moderne

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China: Essen in Shanghai - Zwischen Tradition und Moderne | Bild: BR

Flink fliegen die Finger und formen einen Knödel aus exakt 22 Gramm Schweinemett und 20 Gramm Pizzateig: "Drehen und gleichzeitig den Teig ziehen, sonst läuft nachher der Saft raus!" Und der sei doch das Beste. Und? Geht so, sagt ihr Blick. Sie erklärt es mir geduldig nochmal. Gut, die Köchin hat ja auch Übung: 10.000 produzieren sie davon täglich in diesem traditionellen Restaurant.

"Der ist doch gut!" Den Teig drehen beim Kneten! Aber nein, auch der schafft es nicht bis zum Kunden. Da geht sie lieber nochmal selbst ran.

Chinesisches Frühstück

Gäste beim Knödelessen
Gäste beim Knödelessen | Bild: BR

Fleischknödel, Nudelsuppen. Sie kosten ein bis zwei Euro umgerechnet, sehr günstig also. Chinesen frühstücken immer noch so, als gäbe danach nichts mehr: "Ohne Teigwaren morgens geht nicht, das sind wir einfach gewohnt." Sie selbst zu machen, koste zu viel Zeit: "Wir sind zum Arbeiten hierher gezogen. Zuhause haben wir keine Zeit für Frühstück." Währenddessen werden am Tresen Portionen zur Abholung eingepackt, bestellt im Internet. Das macht bereits 10 Prozent des Umsatzes aus.

Shanghai, 26 Millionen Einwohner: Vorreiter bei der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Das Internet hat hier auch die Essenskultur verändert. Besuch bei der Firma Meituan: Sie betreibt die größte Service-Plattform auf Chinas Mobiltelefonen – täglich 25 Millionen Transaktionen per App. Ganz groß: Essen ausliefern. Kunden und Restaurants bezahlen dafür. "Da ist einer unterwegs und hier muss er hin." Das regelt ein Algorithmus.

Die App und der Lieferant

Hailong, unser gläserner Zusteller. Jeden Morgen loggt er sich per Gesichtserkennung in die App ein für Aufträge, Route und Zeitlimit. "Hailong, hallo!" Heute fahren wir gemeinsam. Helm ist Pflicht. 3000 Essen haben er und seine Kollegen gestern ausgeliefert. An Regentagen sind es 1000 mehr. Zuerst der übliche Bezirks-Morgenappell: Durchzählen. "Anwesend!" Noch kurz üben, dass man dem Kunden guten Appetit wünscht und sich bedankt.

Der erste Auftrag: was wohl? Nudelsuppe! "Stimmt die Auftragsnummer?" Hailong kam vor zwei Jahren aus einer 2000 Kilometer entfernten Stadt nach Shanghai. Ohne die Streckenführung durch die App wäre er hier im Meer der Hochhäuser verloren. "Da vorn muss es sein, mal nachschauen!" Eine Frau hat sich das Frühstück zum Friseur bestellt, wo sie sich die Haare machen läßt. Und schon hat er umgerechnet einen Euro verdient. Auf 1500 kommt er im Monat, Gehalt und Bonus für jede Fahrt.

Hailong
Hailong | Bild: BR

Weiter, nur noch vier Minuten Zustellzeit, sagt die App. Rennen, Suchen. 37. Stock. In Bürohochhäusern sind die Kunden schwer zu finden. Abgabe am Empfangstresen. Danach nur 250 Meter Strecke, in eine Art Wohnheim mit mehr als 2000 Zimmern. "Bitte sehr!" Er sei eben aufgestanden, murmelt der Mann etwas betreten. Essen bestelle er 20 mal die Woche. Das spare Zeit. "Guten Appetit, auf Wiedersehen!" Der nächste Kunde wohnt in einer teuren Anlage und läßt sich Kekse liefern. Ist das gesund, macht das zu viel Müll – wir treffen niemanden, der sich solche Fragen stellt. Stattdessen: "Bestellen ist einfach bequem. Um ehrlich zu sein, ich bin einfach zu faul, nach draußen zu gehen."

Ist bequem, spart Zeit – das sagen fast alle. Dann Pause in einer Garküche: Hailong verdient in Shanghai doppelt soviel wie zuhause: viel Geld für einen 21-Jährigen vom Land. "Ich arbeite sechs Tage die Woche, elf bis zwölf Stunden am Tag. Ich will viel Geld verdienen, bis ich genug habe, um zu heiraten." Für diesen Traum teilt er sich mit sechs Anderen eine kleine Wohnung am Stadtrand.

Das Eltern-Kind-Restaurant

Ein Kind mit einer Suppe
Ein Kind mit einer Suppe | Bild: BR

Er fährt wieder los, ich ziehe weiter in ein Eltern-Kind-Restaurant, der neueste Trend: 25 Euro Eintritt pro Tag, Essen vom japanischen Koch kommt obendrauf. Chinas obere Mittelklasse gibt das gern aus, damit das Kind gefördert wird, passend zum jeweiligen Lernalter, konzipiert von Psychologen. Im Freien gibt es in Shanghai null Spielplätze. Umso begeisterter sind die Eltern: "Essen, arbeiten, spielen. Und das alles an einem Ort. Ist toll. Das spart Zeit!" Der Besitzer weiß, wie er sich gegen die größte Konkurrenz, das Internet, wehren kann. "Die Offline-Welt muss sich ständig neu erfinden. Warum nur ein Kindergarten? Räume für mehr als eine Sache zu nutzen, das ist die Zukunft!" Für Chinas nächste Generation werde Leben und Arbeiten eins.

Essen als Event

Die Großstadt raubt Zeit und auch Gemeinschaft, was Essen ja kulturell so wertvoll macht – ein Teufelskreis. Nur wenn Essen Event wird, begegnet man sich noch, als Fremde. Eine Privatvilla: Verabredung nur über Internet möglich. Diese Fünf kennen sich noch nicht: Shanghai-Millennials. Sie ist ein Youtube-Star, vermarktet sich erfolgreich selbst, Blogger, Städteplaner und Designer die anderen. Hier erwartet uns ein Privatkoch für ein zehngängiges Überraschungsmenü. Shanghais Rhythmus sei schneller als in New York, wo sie zuletzt lebten. Jeder von ihnen arbeitet in Start-ups oder für Firmen, die riesige Datenmengen verarbeiten.

"Killt die moderne Welt Traditionen?" frage ich. "Oh, wir sind doch ganz traditionelle Shanghai-Kinder – wir mussten nie was im Haushalt machen, deshalb kann auch keiner kochen." Da muss sie selbst lachen. "Wie ernährst Du Dich dann?" "Ich bestelle einfach Essen, jeden Tag: morgens, mittags und abends."

Insektenteller
Insektenteller | Bild: BR

Rätseln über die Speisekarte. Das ist doch eingelegte Ente, erklärt Benny, der sich jetzt Kochen beibringen will durch Filme im Internet. Schmeckt ungewöhnlich. Der Hausherr erscheint: "In den 1930er Jahren waren solche Einladungen der größte Luxus und dieses Menü in Shanghai Mode!" Er verabscheue Bestellessen. Was, wenn alle so leben wollten wie sie? Ja, sollen wir vielleicht Insekten essen? Warum nicht, sage ich. Das gibt’s auch in Shanghai. Benny sucht im Telefon. Wir beide beschließen, am nächsten Tag hinzufahren: Frittierte Bambuswürmer neben in Honig getauchten Bienenlarven und Heuschrecken. Großer Insektenteller für umgerechnet vier Euro – proteinreich und stets vorhanden: Insekten sind in vielen Teilen Chinas beliebt. "Kommt da noch Soße?" "Lass es uns tun!", sagt Benny, "oh, schmeckt prima! Ziemlich knackig!" Weit weg, aus der Provinz Yunnan stammen sie. Die Heuschrecken würden dort von Einheimischen aufgespürt und mit Netzen eingefangen, echte Bioware! Es ist eine Erinnerung daran, dass China jenseits der schicken Metropolen noch dafür sorgen muss, dass alle seine Bürger satt werden – mit oder ohne Esskultur.

Autor: Andreas Cichowicz, NDR

Stand: 11.09.2019 21:43 Uhr

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