SENDETERMIN Mo., 25.04.22 | 23:35 Uhr | Das Erste

Geschichte im Ersten: Verwahrt und vergessen?

Psychiatrie in der DDR

Der Film zeichnet die traumatischen Erfahrungen ehemaliger Patienten der DDR-Psychiatrie nach. Er wirft ein Schlaglicht auf die oft menschenunwürdigen materiellen Bedingungen der psychiatrischen Versorgung in der DDR und auf fragwürdige Therapien. Eindringlich schildert die Doku ebenso den Kampf um Reformen der Seelenarbeit im ostdeutschen Staat. - Chris Timmler war von 1980 bis 1990 Psychiatriepatientin im Bezirksfachkrankenhaus in Leipzig-Dösen.
Chris Timmler war von 1980 bis 1990 Psychiatriepatientin im Bezirksfachkrankenhaus in Leipzig-Dösen. | Bild: ARD/rbb / André Straub

"Ich habe da versucht jeden Tag den Abend zu erreichen, mehr war nicht drin." So fasst Lothar Tiedtke seine Erfahrungen im psychiatrischen Fachkrankenhaus von Stralsund Anfang der 1980er Jahre zusammen. Der Stationsalltag ist durch katastrophale materielle Bedingungen, durch hohe Medikamentengaben, durch Zwang und Gewalt geprägt.

Chris Timmler, die zehn Jahre in psychiatrischen Anstalten der DDR verbringen muss, wird zur Abtreibung gedrängt, weil ihr Kind vermeintlich schizophren geboren würde. Die Leipzigerin hält sich mit Arbeiten als Stationshilfe und Putzfrau in der Klinik "über Wasser". Der Einsatz von Patienten, oft als Arbeitstherapie verklärt, ist zur Aufrechterhaltung der Abläufe in vielen Einrichtungen unerlässlich.

Schon Anfang der sechziger Jahre versuchen engagierte Ärzte die Psychiatrie in der DDR zu reformieren. Doch die "Rodewischer Thesen", die 1963 eine aktive Therapie statt Verwahrung und eine Öffnung der geschlossenen Fachkliniken fordern, bleiben Papier. Weitere Anläufe, Patienten auf "Augenhöhe" zu begegnen, die Rehabilitation und Integration von psychisch Kranken zu verbessern, scheitern in den siebziger und achtziger Jahren.

Kampf um Rehabilitierung

Der Film zeichnet die traumatischen Erfahrungen ehemaliger Patienten der DDR-Psychiatrie nach. Er wirft ein Schlaglicht auf die oft menschenunwürdigen materiellen Bedingungen der psychiatrischen Versorgung in der DDR und auf fragwürdige Therapien. Eindringlich schildert die Doku ebenso den Kampf um Reformen der Seelenarbeit im ostdeutschen Staat. - Lothar Tiedtke, ehemals Psychiatriepatient der Station P4 des Krankenhaus-West in Stralsund (heute Helios-Klinik).
Lothar Tiedtke, ehemals Psychiatriepatient der Station P4 des Krankenhaus-West in Stralsund. | Bild: ARD/rbb

Mangelnde Ressourcen, das Misstrauen der Staatsorgane aber auch der Widerstand von Chefärzten, die um den Verlust von Privilegien fürchten, verhindern eine "Demokratisierung" der Psychiatrie. Für viele SED-Funktionäre hätte es Depressionen, Selbstmord oder Alkoholsucht im sozialistischen Deutschland gar nicht geben dürfen. Der Vermutung, dass es in der DDR eine politische Psychiatrie nach sowjetischem Vorbild gegeben habe, widerspricht eine Untersuchung aus dem Jahre 1994 jedoch entschieden. Die Zahl der Psychiater, die als informelle Mitarbeiter der Staatsicherheit tätig waren, ist aber mehr als doppelt so hoch wie in anderen ärztlichen Berufsgruppen.

Lothar Tiedtke wirft die Erfahrung mit der DDR-Psychiatrie völlig aus der Bahn. Bis heute kämpft der gelernte Schiffbauer vergeblich um seine Rehabilitierung. Nach zehn Jahren kehrt Chris Timmler 1989 in die Freiheit zurück. Ihre Diagnose, Schizophrenie, hat sich als haltlos erwiesen.

Ein Film von Ulli Wendelmann und Claudia Gründer

Diese Sendung ist nach der Ausstrahlung ein Jahr lang in der ARD Mediathek verfügbar.

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