SENDETERMIN Sa., 29.05.21 | 16:00 Uhr | Das Erste

Die wahren Verkehrskosten in der Stadt

Prof. Carsten Sommer
Verkehrsforscher Prof. Carsten Sommer ist auf der Spur nach den versteckten Kosten der Verkehrsmittel. | Bild: hr

Der Verkehr in der Stadt kostet Geld. Fahrradwege werden ausgebaut, Parkplätze und Straßen erneuert, Ampelanlagen instand gesetzt und Straßenbahnen betrieben. Und gerade in Zeiten der "Verkehrswende" stehen die Städte vor der Aufgabe, ihre Mobilität nachhaltiger und umweltfreundlicher zu gestalten. All das kostet,  und damit der Verkehr in der Stadt reibungslos funktioniert und alle möglichst schnell und bequem von A nach B kommen, stecken die Kommunen jedes Jahr viel Geld in ihre Verkehrsinfrastruktur.

Aktuelle Untersuchungen zeigen jedoch, dass ausgerechnet das Fahrrad als umweltfreundliches Verkehrsmittel bislang kaum profitiert. In Kassel beispielsweise fließen pro Einwohner und Jahr ganze 128 Euro in den Autoverkehr und nur sechs Euro in den Fahrradverkehr. Auch in anderen Städten ist das Geld höchst ungleich verteilt. In Heidelberg gibt die Stadt pro Einwohner und Jahr sogar 240 Euro für das Auto und sechs Euro für das Fahrrad aus. Ähnliche Ergebnisse gab es vor einigen Jahren in Kiel und Bremen. Und für die allermeisten Kommunen ist das noch gar nicht untersucht worden. Wie kommt dieses Ungleichgewicht zustande und wie verträgt sich das mit den Zielen der Verkehrswende?

Verkehrskosten oftmals unklar

Prof. Carsten Sommer, Verkehrsforscher an der Universität Kassel, spricht von einer fehlenden Kostentransparenz im Verkehrsbereich. "Viele Kommunen wissen gar nicht, wie viel Geld sie für die unterschiedlichen Verkehrssysteme ausgeben", sagt er. Wie sich welche Investition auf den Gesamtverkehr der Stadt auswirke, sei oftmals unklar. Bislang fehle dazu ein umfassender Blick über die Verkehrskosten. An der Universität Kassel hat er deshalb ein Verfahren entwickelt, mit dem Städte erstmals genau erfassen können, wie ihre Kosten und Zuschüsse auf die einzelnen Verkehrsmittel verteilt sind. Dazu zählen der Autoverkehr, der Fuß- und Radverkehr sowie der öffentliche Nahverkehr (ÖPNV). Es ist eine aufwendige Kosten-Nutzen-Rechnung, die Prof. Carsten Sommer und sein Forscherteam aufstellen. Mobilität ist vielschichtig. Um alle Faktoren zu berücksichtigen, sind die Verkehrsforschenden auf eine Menge Daten angewiesen: Verkehrspläne, Geodaten, Informationen zu Fahrleistung und Verkehrsaufkommen fließen in die Berechnung mit ein.

Wer nutzt welche Infrastruktur?

Grafik zeigt Zuschüsse für die Verkehrsmittel in Kassel pro Einwohner pro Jahr.
Zuschüsse für die Verkehrsmittel in Kassel pro Einwohner pro Jahr. | Bild: hr

Zuerst beginnen die Forschenden mit einer Bestandsaufnahme und berechnen, wie viel die Stadt pro Verkehrsmittel aufwendet. Der gesamte Stadtverkehr wird auf seine Einzelteile untersucht; das Straßennetz etwa in Streckenabschnitte aufgeteilt. So lässt sich ermitteln, welches Verkehrsmittel welche Infrastruktur in welchem Umfang beansprucht: Die Fußgänger beispielsweise die Gehwege, die Autos Parkplätze und einen Großteil der Fahrbahn. Der öffentliche Nahverkehr nutzt Haltestellen und Schienen, die Radfahrenden nützen vor allem die Radwege. Entsprechend verteilen sich die Kosten. Darüber hinaus berücksichtigen die Verkehrsforschenden auch Einnahmen durch die Mobilität – etwa ÖPNV-Tickets oder Parkgebühren.

Stück für Stück setzt sich ein klares Bild über die Verteilung der Verkehrsgelder zusammen. Aus den Kosten und Erträgen ergeben sich schließlich die jährlichen Zuschüsse für die Mobilität in der Stadt. Am Beispiel Kassel sind das pro Einwohner rund 350 Euro. Davon 128 Euro für den Autoverkehr. Für den ÖPNV sind es 148 Euro. Für die Fußgänger 38 Euro. Und für das Rad: 6 Euro pro Einwohner.

Effekte auf Umwelt und Gesundheit

Für einen ganzheitlichen Blick betrachten die Verkehrsforschenden auch Nebeneffekte – versteckte Kosten und Nutzen des Verkehrs, die der Allgemeinheit entstehen. Anhand von wissenschaftlichen Studien und Kennzahlen berechnen sie etwa, welche Kosten der Stadtverkehr durch Luftverschmutzung, Klimaschäden, Lärm und Unfälle verursacht – aber auch, welcher Nutzen sich ergibt.

Zu Fuß gehen und Radfahren hält uns in Bewegung und steigert unser Wohlbefinden. Das entlastet das Gesundheitssystem und spart Krankheitskosten. Allein in Kassel sind das 31 Millionen Euro Nutzen pro Jahr durch das Fahrrad. Ein Wert, der in seiner Höhe selbst die Verkehrsforschenden überrascht hat.

Viele Zuschüsse fürs Auto, wenig Zuschüsse fürs Rad

Fahrradfahrerin im Straßenverkehr
Vorteil Rad: Geringe Verkehrskosten, hoher Gesundheitsnutzen. | Bild: hr

Die Gesamtbilanz für Kassel fällt deutlich aus: Während der Radverkehr wenig Infrastrukturkosten voraussetzt, kaum Lärm und Emissionen verursacht und sogar einen positiven Gesundheitseffekt aufweist, fallen die Zuschüsse für das Rad gering aus. Anders sieht es für den Autoverkehr in der Stadt aus, der sehr hohe Zuschüsse bekommt und gleichzeitig für die höchsten versteckten Kosten sorgt.

Mit seinem Verfahren will Prof. Carsten Sommer Transparenz im Verkehrssektor schaffen und den Kommunen dafür eine faktenbasierte Grundlage liefern: "Wenn man sagt, wir wollen eine Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmer, dann heißt es auch eine gewisse gleichberechtigte Finanzierung. Das muss nicht heißen, dass jeder wirklich exakt gleich viel Geld bekommt, aber das zeigt schon, dass man die Prioritäten anders setzen sollte."

Bislang haben erst eine Handvoll Kommunen dieses Verfahren für ihre Verkehrsplanung genutzt, darunter die Stadt Kassel. Sie hat entschieden, den Radverkehr stärker finanziell zu fördern. Das Verfahren der Verkehrsforschenden wird zeigen, ob die Stadt ihre Ziele einhält.

Autor: Lucas Gries (HR)

Stand: 28.05.2021 00:01 Uhr

Sendetermin

Sa., 29.05.21 | 16:00 Uhr
Das Erste

Produktion

Südwestrundfunk
für
DasErste