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Hochwasserschutz: Sperrwerke und Mega-Dämme

Große weiße Flutschutztore vor Roterdam.
Die Flutschutztoren des Maeslantkerings schützen Rotterdam. | Bild: Rijkswaterstaat

Wenn die Norddeutschen ehrfürchtig vom "blanken Hans" sprechen, meinen sie die stürmische Nordsee, die schon manche Sturmflut Richtung Küste geschickt, manchen Deich gebrochen und Tausende Menschen in den Tod gerissen hat. Der Kampf mit dem Meer und der Schutz vor den Fluten begleitet die Küstenbewohner. Egal ob in Norddeutschland, den Niederlanden, auf der anderen Seite vom englischen Kanal oder im italienischen Venedig. Die angstvolle Frage ist immer: Wann kommt die Flut? Wie hoch steigt das Wasser? Wie kann man sich schützen?

An der Technischen Universität Hamburg wird erforscht, wie moderner Hochwasserschutz in Zukunft aussehen kann. Das Institut für Wasserbau hat dafür rund drei Millionen Euro an Forschungsgeldern vom Bund bekommen. Im Zentrum steht die Frage, wie die tideabhängige Elbe gesichert und Hamburg vor Sturmfluten und Hochwassern geschützt werden kann.

Blick über den Kanal nach London

London könnte als Vorbild dienen. Die Millionenstadt liegt, wie Hamburg, an einem großen Fluss, der bei Ostwind durch Sturmfluten aus der Nordsee bedroht ist. 1984 gingen in der Themse die sogenannten Thames Barriers in Betrieb. Das Sperrwerk hat eine Gesamtlänge von 520 Metern und besteht aus zehn schwenkbaren Toren. Sie sind an großen, Mühlrad ähnlichen Scheiben befestigt und liegen in geöffnetem Zustand flach auf dem Boden der Fahrrinnen. Schiffe mit einem Tiefgang bis 16 Meter können das Sperrwerk passieren. Die vier Tore in der Mitte sind je 60 Meter breit.

Droht eine Sturmflut, werden die "Scheiben" gedreht und die Flutschutztore so aus der Waagerechten in die Senkrechte geschwenkt. Innerhalb von 15 Minuten ist das Sperrwerk geschlossen. Das ist ungewöhnlich schnell. Andere Anlagen brauchen bis zu 48 Stunden Vorwarnzeit, um den Flutschutz hochzufahren.

Doch der enge Durchlass von nur 60 Metern birgt auch Risiken. So wäre London den Sturmfluten aus der Nordsee schutzlos ausgeliefert, wenn das Sperrwerk versagte, etwa weil ein größeres Schiff eines der Tore gerammt und beschädigt hätte Und das Sperrwerk ist nur im Zusammenspiel mit anschließenden Deichen wirkungsvoll. Das heißt, die gesamte Themse muss von der Nordsee bis zum Sperrwerk (circa 40 Kilometer) von Deichen flankiert werden. Klar ist auch, dass so ein Sperrwerk immer nur vor kurzzeitigen Ereignissen (zum Beispiel Sturmfluten) schützt. Die dauerhafte Bedrohung durch einen massiven Anstieg des Meeresspiegels kann ein Sperrwerk nicht bannen. Denn irgendwann müssen die Flutschutztore auch wieder öffnen – schon um das Flusswasser abfließen zu lassen, dass sich landeinwärts aufstaut und sonst im Binnenland für nasse Füße sorgt.

Niederlande: kleines Land, tief gelegen

Die Niederlande sind eine Nation, die besonders von Hochwasser bedroht ist. Ein Viertel des Landes liegt tiefer als der Meeresspiegel. 1953 traf eine verheerende Sturmflut die Küste. An knapp 89 Stellen brachen die Deiche. 1.835 Menschen starben. Die Katastrophe war der Auslöser für den Bau einer Flutschutzanlage von unvorstellbaren Ausmaßen.

Die Deiche wurde massiv verstärkt und erhöht. Ganze Küstenabschnitte wurden begradigt und neugestaltet, weil eine Befestigung entlang der alten, geschwungenen Uferlinie zu aufwendig und teuer gewesen wäre. Zudem planten die Ingenieure mit den sogenannten Deltawerken 13 einzelne Sperrwerke, die die Fluss- und Hafenmündungen gegen Sturmfluten sichern sollten.

Der Wasserhahn Europas

Große weiße Flutschutztore vor Roterdam.
Die Flutschutztoren des Maeslantkerings schützen Rotterdam. | Bild: Rijkswaterstaat

Die Gegend zwischen Rotterdam und Antwerpen gilt geografisch als Wasserhahn Europas. Hier fließen Rhein und Maas in die Nordsee. Vier große Flussdeltas und die Hafeneinfahrt von Rotterdam mussten vor den Fluten geschützt werden. Das Problem: Es ist nicht möglich, die Verbindung zum Meer einfach durch eine lange Deichlinie zu sichern. Denn aus dem Binnenland fließen ständig Tausende Kubikmeter Flusswasser Richtung Nordsee, die entsorgt werden müssen. So konzipierten die Ingenieure unterschiedliche Bauwerke mit riesigen Flutschutztoren, die mal von oben abgesenkt, mal von der Seite in den Strom geschoben werden können. Eine der bekanntesten Anlagen ist das sogenannte Maeslantkering. Zwei sichelförmige Barrieren, die bei drohender Sturmflut in die Fahrrinne geschwenkt werden und eine Lücke von rund 400 Metern verschließen. Das Maeslantkering sichert den Hafen von Rotterdam.

Allerdings schützen diese Maßnahmen die Niederlande nur vor den zu erwartenden Sturmfluten der kommenden Jahrzehnte. Wenn die Erderwärmung nicht begrenzt werden kann und der Meeresspiegel mehr als einen Meter steigt, werden Dreiviertel des gesamten Landes unterhalb von Normal Null liegen. Irgendwann müssten die Flussmündungen mit Deichen geschlossen und das Flusswasser permanent ins Meer gepumpt werden – en Horrorszenario.

Modernsten Flutschutzanlage Europas: MOSE teilt das Meer

In einer Grafik ist eine gelbe Barriere im Wasser dargestellt.
Flutschutzsystem Mose. Die gelben Barrieren klappen hoch, wenn Luft einströmt | Bild: Consortio Venezia Nuova

Auch Venedig hat mit immer extremeren Hochwassern zu kämpfen. Zwar gibt es in der Adria praktisch keine Ebbe und Flut. Aber südwestliche Winde drücken die Wassermassen immer häufiger in die Lagunenstadt, so dass es mehrmals im Jahr zum Acqua Alta, dem berühmten, venezianischen Hochwasser kommt. Das bislang schlimmste Hochwasser traf Venedig 1966. Der Pegel erreichte damals einen Wert von 194 Zentimetern über dem Referenz-Meeresspiegel am Punta della Salute. 2019 wurde eine ähnlich dramatische Marke von 187 Zentimetern gemessen. Die Schäden an den alten Bauwerken waren immens. Die Stadtväter hatten daher schon 2003 den Bau der modernsten Flutschutzanlage Europas in Auftrag gegeben. Das Projekt MOSE. Ein Akronym für Modulo Sperimentale Elettromeccanico. MOSE teilt das Meer in einen Hochwasserbereich außerhalb der Barriere und eine Zone mit niedrigem Wasserstand innerhalb der Lagune.

Das Prinzip: 78 riesige Stahlpontons ruhen auf dem Meeresgrund. Dort sind sie an einem Ende mit großen Scharnieren an Betonfundamenten befestigt. Droht ein Hochwasser, wird Luft in die stählernen Barrieren gepumpt. Das freie Ende schwimmt auf, die Flutschutz-Elemente klappen hoch und MOSE steht wie eine schräge Wand im Wasser. 78 Barrieren bilden eine Kette und verschließen die drei Öffnungen der Lagune. Im Normalbetrieb liegen die gelben Elemente unsichtbar auf dem Grund der Lagune und behindern weder Schifffahrt noch Tier und Pflanzenwelt.

MOSE: Elegant, aber teuer und träge

Ursprünglich sollte das Bauwerk knapp zwei Milliarden Euro kosten und 2011 fertig sein. Doch daraus wurde nichts. Die Kosten explodierten auf rund sechs Milliarden Euro und am Ende konnte die Anlage erst mit neun Jahren Verspätung in Betrieb genommen werden. Zudem hat MOSE eine Vorwarnzeit von 48 Stunden. Im Dezember 2020 versagte der Flutschutz, weil die Meteorologen den zu erwartenden Wasserstand falsch berechnet hatten. Und der Markusplatz stand wieder einmal unter Wasser.

Auf lange Sicht wird MOSE Venedig ohnehin nicht retten. Denn das System ist nur ein Schutz vor Sturmfluten, nicht vor dem generellen Anstieg des Meeresspiegels. Und der ist für Venedig ein existentielles Problem. Denn zusätzlich zum steigenden Wasserspiegel sackt die Lagunenstadt Jahr für Jahr um ein paar Millimeter ab, weil die Einwohner über Jahrzehnte zu viel Grundwasser abgepumpt haben.

MOSE dauerhaft zu schließen ist aber auch keine Option. Zum einen könnten dann keine Schiffe mehr in die Lagune einlaufen. Zum anderen braucht Venedig den Wasseraustausch mit dem offenen Meer. Denn die die Stadt hat keine moderne Kanalisation. Viele Abwässer fließen ungeklärt in die Adria - und mit ihnen die Exkremente hunderter Haushalte. Bleibt MOSE zu lange geschlossen, verwandelt sich die Lagune in eine riesige Kloake.

Schutz mit kleinen Einschränkungen

Eine andere Flutschutzmaßnahme, die zumindest für Flüsse geeignet ist, besteht in der Verengung des Querschnitts. Sie wird derzeit am Institut für Wasserbau der TU Hamburg untersucht. Eine Beschränkung auf zum Beispiel ein Drittel der ursprünglichen Breite würde in der Elbe bei dem normalen Wechsel von Ebbe und Flut kaum zu Veränderungen führen. Bei Sturmfluten aber, wenn deutlich größere Wassermassen den Fluss hinaufkommen, würde so eine Verengung bewirken, dass sich das Wasser vor der Verengung staut und nur relativ wenig durch die Lücke strömt. An dieser Stelle herrschen dann zwar sehr starke Strömungen und Turbulenzen aber eine Gefahr für die Schifffahrt besteht nicht. Die Elbe würde im Sturmflutfall ohnehin für den Verkehr gesperrt.

NEED – aus der Not geboren

Getrichelte Linien auf einer Karte.
Projekt NEED: Die gestrichelte Linie zeigt den möglichen Verlauf des Dammes.

Wenn es nicht gelingt, den Anstieg des Meeresspiegels durch effektiven Klimaschutz signifikant zu bremsen, werden große Teile der Nordeuropas untergehen. Nicht in den nächsten Jahrzehnten aber in den nächsten Jahrhunderten. Es sei denn, die Menschheit greift zu extremen Formen des Küstenschutzes. Sjoerd Groeskamp und Joakim Kjellsson, ein niederländischer Ozeanograf und ein schwedischer Meteorologe, der am Geomar in Kiel forscht, haben sich ein Konzept ausgedacht, das die Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee schützen würde. NEED heißt das Projekt- die Abkürzung für North European Enclosure Dam.

Ein kürzerer Damm im Englischen Kanal und ein zweiter, rund 330 Kilometer langer Damm von den Shetlandinseln bis Norwegen würde die Nordsee komplett vom Atlantik abtrennen und sie damit – gemeinsam mit der Ostsee – zum Binnenmeer machen. Es gäbe dort praktisch keine Gezeiten mehr. Das Wasser der Flüsse, die jetzt in Nord- und Ostsee fließen, müsste dafür permanent in den Atlantik gepumpt werden. Die beiden Forscher rechnen mit rund 40.000 Kubikmetern – pro Sekunde! Derzeit gibt es auf der Welt kein Pumpwerk, das auch nur annähernd so große Kapazitäten hat.

Die Kosten für so ein gigantisches Projekt lassen nur ungefähr abschätzen. Die beiden Autoren haben dafür bereits bestehende Projekte, wie die niederländischen Deltawerke oder den umstrittenen Saemangeum-Damm in Südkorea, als Grundlage genommen und die Baukosten vervielfacht. Heraus kam eine Summe von 250-500 Milliarden Euro. Allein der benötigte Bausand würde der weltweit verbauten Sandmenge eines ganzen Jahres entsprechen. Zudem ist völlig unklar, welche dramatischen Auswirkungen auf das Ökosystem zu befürchten wären. Die Autoren wollen ihre Überlegungen allerdings nicht als erstrebenswerten Lösungsansatz, sondern als Weckruf verstanden wissen. Es sei einfacher und deutlich besser, den Klimawandel in der Gegenwart zu bekämpfen und die Katastrophe noch abzuwenden, als später extreme Schutzmaßnahmen zu ergreifen, so Joakim Kjellsson. Noch sei Zeit...

Autor: Björn Platz (NDR)

Stand: 26.03.2021 15:09 Uhr

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