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Luftbildarchäologie: Spurensuche aus dem Cockpit

Ein Mann fotogtafiert aus einem Flugzeug heraus.
Dr. Baoquan Song betreibt Archäologie aus der Luft. | Bild: NDR

Mit Schaufeln, Spachteln und Pinseln bewaffnet wühlen sie in der Erde, um Spuren längst untergegangener Zivilisationen zu finden. Das ist die Vorstellung, die wohl die meisten vom Beruf des Archäologen haben. Einer, der diesem Bild ganz und gar nicht entspricht ist Dr. Baoquan Song. Er arbeitet in einigen Hundert Metern Höhe, denn Dr. Song ist Luftbild-Archäologe.

Auf Spurensuche aus der Vogelperspektive

Rechteckige Form in einem Feld aus der Vogelperspektive.
Verräterische Spuren in einem Getreidefeld. | Bild: NDR

Der 59-Jährige hat schon die halbe Welt beflogen, immer dabei und schussbereit: seine Kamera. Damit fotografiert er auffällige Verfärbungen oder Muster auf Wiesen und Feldern. "Ich weiß nie, was ich beim nächsten Flug entdecke, denn die Bedingungen ändern sich ständig. In den letzten sehr trockenen Sommern konnte ich zum Beispiel Spuren entlang des Rheins entdecken, die sich in den Jahren davor nicht gezeigt haben."

Die Spuren, die Baoquan Song aus seinem Kleinflugzeug heraus fotografiert heißen in der Fachsprache "Bewuchsmerkmale". Dank seines aufmerksamen und geschulten Blicks aus der Vogelperspektive entdeckt er Strukturen, die aus der Nähe betrachtet gar nicht weiter auffallen. Und oft ahnt er schon in der Luft, was da unter der Vegetation im Boden schlummert. Er umkreist die Stelle mit seiner Cesna in einer Steilkurve und schießt durchs offene Fenster Bilder aus verschiedenen Winkeln. Manche Motive erinnern fast an eine Landkarte, auf der längst verschwundene Bauwerke und Straßen eingezeichnet sind.

Bewuchsmerkmale: Negativ oder positiv?

Querschnitt durch ein Getreidefeld als Grafik.
Mauerreste lassen Getreide weniger Raum zum Wurzeln | Bild: NDR

Zu Bewuchsmerkmalen kommt es, wenn die Vegetation von im Boden liegenden Strukturen beeinflusst wird. Ein geradliniger, scharf begrenzter Bereich von vertrockneten Pflanzen weist zum Beispiel darauf hin, dass sie über Mauerresten, Fundamenten oder festgetrampelten Wegen wachsen. Solche Veränderungen im Untergrund wirken sich bis zu einer Tiefe von 60 Zentimetern auf die Vegetation aus. Oberhalb dieser Bereiche können Getreide oder Gras weniger Erdreich durchwurzeln. Sie bekommen weniger Nährstoffe und trocknen schneller aus als benachbarte Pflanzen. Solche negativen Bewuchsmerkmale zeigen sich als rötliche oder bräunliche Verfärbungen in einer eigentlich (noch) grünen Umgebung.

Genau andersherum ist es dort, wo im Laufe der Jahrtausende Gruben oder Gräben ausgehoben wurden. Über die Zeit füllten sich diese Vertiefungen mit Laub, Zweigen und lockerer Erde. Die Pflanzen, die über diesen Stellen wurzeln tiefer und gelangen deshalb besser an Nährstoffe und Wasser als ihre Nachbarn. Sie stechen, vor allem in Trockenperioden, auffällig grün aus Feldern und Wiesen hervor.

Und dann gibt es da noch einen Sonderfall: positive Bewuchsmerkmale wo eigentlich negative sein sollten. Das liegt daran, dass Steine in vielen Zeiten ein beliebtes aber eben auch teures Baumaterial waren. Zum Beispiel im frühen Mittelalter. Die bereits zugerichteten Quader kamen den Bauherren gelegen und so wurden die aufgegebene Häuser, Militärlager, Städte und Tempel der Römer von den nachfolgenden Generationen als "Steinbruch" genutzt. Sie gruben sogar die Fundamente aus um sie zu "recyceln".

Bilder aus 7.000 Jahren Baugeschichte

Umrisse eine Gebäudes aus der Vogelperspektive.
Vetera Castra I im Luftbild | Bild: NDR

Besonders gut zeigt sich das zum Beispiel auf den Luftbildern des römischen Militärlagers Vetera Castra 1 am Niederrhein. Hier waren einst die Legionen Augusta XVII und Augusta XII stationiert. Das waren die Truppen, die in der berühmten Varusschlacht vernichtend von den Germanen geschlagen wurden. 2.000 Jahre später treten ihre Spuren als positive Bewuchsmerkmale deutlich aus einer Wiese hervor. Mauersteine und Fundamente der ehemaligen Militärkaserne wurden später aus dem Boden gerissen. Zurück blieben tiefe Gräben. Deren Lage sieht man noch heute, so akkurat wie auf einem Bauplan.

Gebäude aus der Vogelperspektive.
Vetera Castra I: Rekonstruktion | Bild: NDR

Luftbildarchäologen können sogar noch weiter in die Vergangenheit zurückblicken. Selbst aus einer Zeit, in der die Menschen lediglich Holz als Baustoff verwendeten, zeigen sich noch heute die Spuren ihrer Häuser in der Vegetation ab. Zum Beispiel die eines Langhauses aus der Jungsteinzeit. Erbaut vor etwa 7.000 Jahren! "Diese Gebäude erkennt man gut an den regelmäßig angelegten Pfostenlöchern, in denen einst die mächtigen Eichenpfähle standen, die die Dachkonstruktion trugen", erklärt der Luftbildarchäologe. Ein weiters Indiz: die Größe dieser Häuser. Mit einer Seitenlänge von bis zu 50 Metern und einer Breite von nur etwa 6 bis 8 Metern sind die langen, schmalen Häuser dieser Epoche einzigartig und somit leicht zuzuordnen.

Untergegangene Städte wieder sichtbar machen

Baoquan Song nimmt Kurs auf die ehemalige Römer-Stadt Colonia Ulpia Traiana. Bis zu 10.000 Menschen lebten hier während der Hochzeit des Römischen Reiches. Sie hinterließen Straßen, Häuser und Tempel die zu großen Teilen unter der heutigen Stadt Xanten verschwunden sind. Am Ortsrand befindet sich der "LVR-Archäologische Park Xanten". Hier legen Archäologen seit den 1970er-Jahren nach und nach die Überreste der Colonia Ulpia Traiana frei. In einem Museum können Besucher die Geschichte der Römischen Colonia bestaunen. Rekonstruierte Gebäude wie das Amphitheater spicken schon das Gelände – und nach wie vor wird hier gegraben.

Dr. Armin Becker und sein Team sind gerade dabei die Überreste eines gallo-römischen Tempels freizulegen. Direkt neben dem Grabungszelt zeichnen sich deutlich zwei parallel verlaufende gerade Linien vertrockneten Grases ab. Boaquan Song hatte sie aus der Luft entdeckt und fotografiert, heute will er sich ihren Ursprung anschauen. Eine Art Fortbildung für den Luftbildarchäologen! "Wir brauchen immer wieder Feedback von solchen Grabungen, um unsere Bilder richtig einzuordnen", erklärt Song. "Da in Deutschland heute nur noch selten überhaupt etwas ausgegraben wird, sind solche Grabungs-Orte, von denen wir auch Luftbildbefunde haben besonders wichtig."

Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern hat vor allem damit zu tun, dass die Relikte aus längst vergangenen Zeiten im Boden besser erhalten bleiben. Würde man sie ausgraben, müssten sie aufwendig konserviert werden. Dazu kommt, dass jede Grabung den "Fundzusammenhang" stört. Vor allem die frühen Jahre der Archäologie haben gezeigt, dass eine Ausgrabung oft mehr zerstört, als zu erhalten.

Auf den Spuren einer Mauer

Ausgrabungen an einer Mauer
Mauerreste verursachen Spuren im Luftbild. | Bild: NDR

Die "Luft-Linien" führen direkt in das Innere des Grabungszeltes. Hier haben die Archäologen eine etwa zwei Meter tiefe Grube ausgehoben. Aus einer der Seitenwände tritt ein Stück Mauer hervor, das die Bewuchsmerkmale offensichtlich verursacht hat. Wahrscheinlich gehörte sie zu einem Gang, der den Tempel einst umgab. Welche Götter in diesem Tempel verehrt wurden, welche Opfer die Menschen ihnen darbrachten und wie das Gelände aufgeteilt war, versucht das Team von Dr. Becker noch herauszufinden.

Mit Schaufel, Spachtel und Pinsel hat sich auch Baoquan Song in den ersten Jahren seiner Laufbahn durch den Boden gewühlt, aber diese Art der Spurensuche vermisst er nicht: "Ich bin glücklich, dass ich mir nicht mehr 'die Hände schmutzig' machen muss," gibt er zu. "Ich bin viel lieber da oben in der Luft und entdecke von dort aus neue, interessante Fundplätze!" Damit hat Baoquan Song auch noch einiges zu tun: Schätzungen zufolge sind gerade mal 10 Prozent der im Boden schlummernden Relikte in Deutschland überhaupt bekannt!

Autorin: Julia Schwenn (NDR)

Stand: 26.01.2022 11:47 Uhr

Sendetermin

Sa., 29.01.22 | 16:00 Uhr
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Südwestrundfunk
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