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Hitformel gesucht: Die Wissenschaft vom perfekten Popsong

Diskokugel von unten
Hits werden sich immer ähnlicher. | Bild: SWR

Die "Hitformel" werde schon seit Ewigkeiten gesucht, sagt der Musikwissenschaftler und KI-Forscher Dr. Stephan Baumann. Doch die "Hitsong-Science" würde immer wieder grandios floppen, "weil am Ende ein Stück Musik in einen kulturellen Kontext gekippt wird, der ein völlig anderer ist als noch vor zwei oder drei Jahren." Denn Popmusik ist Zeitgeist – und Trends lassen sich nicht berechnen. Statistische Auffälligkeiten gibt es aber. So werden in Hits meist schlichte Akkorde wie C-Dur verwendet, ebenso bestimmte Akkordfolgen, auch vergrößert die häufige Verwendung des Wortes "You" das Hitpotenzial.  

Musikgenuss: Ein cleveres Spiel mit unseren Erwartungen

Mit maschinellen Lernprogrammen lassen sich zudem Muster in Massendaten erkennen, die Menschen verborgen bleiben. Die Neurowissenschaftler Prof. Stefan Koelsch und Vincent Cheung vom Max-Planck-Institut analysierten 80.000 Akkorde in 745 Hits der US-Charts. Dazu wurde für jeden Akkord berechnet, wie überraschend oder erwartbar dieser im Kontext der Komposition ist. Die Akkordfolgen – ohne Melodie und Text – wurden dann Versuchspersonen vorgespielt.

Das Ergebnis: "Wenn die Testpersonen relativ sicher waren, welche Akkorde als nächstes zu erwarten waren, empfanden sie es als angenehm, wenn sie stattdessen überrascht wurden", eklärt Cheung. Wenn die Testpersonen aber unsicher waren, was sie als nächstes erwartet, fanden sie es angenehm, einen erwartbaren Akkord zu hören. Demnach ist Musikgenuss ein cleveres Spiel mit der menschlichen Prognosefähigkeit: Vergnügen bereitet uns, wenn sichere Erwartungen geschickt enttäuscht werden.

Gänsehaut-Effekt: Warum ist manche Musik so ergreifend?

Akkordfolgen in einer Grafik auf einem Monitor.
Welche Akkordfolgen machen den Hit? | Bild: SWR

Und dann ist da noch der Gänsehaut-Effekt bestimmter Hits. Den erforschen Dr. Stephan Baumann und die Kognitionswissenschaftlerin Iuliia Brishtel vom Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI): Sie messen die Hautleitfähigkeit von Versuchspersonen beim Musikhören. So bekommen sie Hinweise auf besonders intensive Gefühle, die Menschen bei bestimmten Musikstellen empfinden. Doch ist das dann nur bei Einzelnen so, weil ein Song etwas ganz Individuelles in einem Menschen berührt? Oder sind die Effekte bei vielen Menschen gleich? Für Antworten darauf braucht es Messungen in Masse und maschinelle Lernprogramme. Dann lässt sich auch sagen, welche Kombinationen von musikalischen oder textlichen Effekten generell emotional am besten funktionieren.

Künstliche Intelligenz komponiert

Discolichter und Programmcode
Künstliche Intelligenz als Komponist. | Bild: SWR

Erfolgreiches irgendwie neu arrangieren: Das erledigt heute die Künstliche Intelligenz (KI). Der Song "Daddy´s Car" von 2016 gilt als erste KI-Komposition. Die Aufgabe für den Computer war: Mache aus 45 Beatles-Songs etwas Neues. Heraus kam ein hübscher Song mit Beatles-Touch – aber, so Dr. Stephan Baumann, eben kein Hit für unsere Zeit. Neue KI-Kompositionsprogramme schaffen es sogar, alte Hits permanent zu modifizieren. Dass dann nach Tausenden Variationen ein neuer Hit entsteht, bezweifelt der Musikwissenschaftler Baumann – dafür fehle dann doch etwas zutiefst Menschliches: "Wie viele Songs wurden im Liebeskummer geschrieben, in einer depressiven Phase, auf Droge, im Hochgefühl". Eine Maschine, so Baumann, schwitze nicht; auch eine Idee von Sterblichkeit sei ihr nicht bekannt.

Hits werden sich immer ähnlicher

Der KI-Experte als Nostalgiker: Ein echter Hit muss etwas Berührendes, etwas Einzigartiges haben. Noch gibt es das. Noch verirrt sich ab und an ein individueller Solitär-Song in die Charts. Doch Auswertungen der Algorithmen des Musikstreamingdienstes Spotify zeigen einen anderen Trend: Hits werden sich immer ähnlicher. Denn was funktioniert, verstärkt sich selbst.

Auch Produzenten, die für viele Stars arbeiten, reproduzieren ihren Stil immer wieder. Die Folge ist ein Kreislauf des Erwartbaren – den KI noch verstärkt. So könnte das Rezept für den perfekten Popsong doch noch Wirklichkeit werden. Basierend auf Massendaten aus dem Massengeschmack wäre das dann vor allem eins: atemberaubend langweilig.

Autor: Oliver Wittkowski (SWR)

Lesetipps

Good Vibrations. Die heilende Kraft der Musik
Stefan Kölsch
Verlag Ullstein, Berlin 2019
ISBN 3550050526
384 Seiten
22 Euro

Stand: 09.08.2020 04:33 Uhr

Sendetermin

Sa., 08.08.20 | 16:00 Uhr
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Produktion

Südwestrundfunk
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