SENDETERMIN So., 06.04.08 | 17:03 Uhr | Das Erste

Blind zum Weltrekord

Wer Anne-Greta-Schricker auf ihrem Pferd Dionero sieht, wird es kaum glauben - aber die Profi-Dressurreiterin ist blind.

Mit zwölf Jahren, damals noch sehend, fing sie an zu reiten. Als sie mit Anfang zwanzig erblindete, dachte sie gar nicht daran, das Reiten aufzugeben. Wie ist so etwas möglich?

Die blinde Reiterin muss sich nicht nur ohne optische Eindrücke in ihrer Umgebung zurechtfinden – sie muss dazu auch noch ein hochsensibles und manchmal auch eigenwilliges Pferd steuern.

Die kognitive Karte im Kopf

Anne-Greta Schricker verlässt sich dabei ganz auf ihre Ohren und hat dafür eine erstaunliche Methode entwickelt: Sie macht ein Schnalzgeräusch und orientiert sich ähnlich einer Fledermaus daran, wie der Schall zurückkommt.

So hat sie sich mit der Zeit eine Art “kognitive Karte” aus akustischen Eindrücken eingeprägt: Sie hört in der Reithalle die Tür und die Distanz zur kurzen Wand. Auch die Ecke hat einen ganz eigenen Klang, da nun die lange Wand den Schall zurückwirft.

Besonders schwierig ist es für sie, wenn sie in Richtung Tribüne reitet: Denn hier verteilt sich der Schall im Raum und wird nicht von einer glatten Wand zurückgeworfen. So lässt sich die Entfernung auch schlechter bestimmen.

Intensivere Bindung zum Pferd

Doch mit dieser Technik bewegt sie sich in der Halle so souverän wie ein Sehender. Anne kann sich allerdings nicht immer nur auf ihre Ohren verlassen. Auch die Zusammenarbeit mit dem Pferd muss bei einem blinden Reiter viel intensiver sein.

"Nach der Erblindung zu reiten", erzählt sie, "war sicherlich mit dem Pferd auch eine ein bisschen andere Kommunikation oder Interaktion, weil man sich am Anfang doch ein bisschen mehr auf das Pferd verlässt. Und das ist sicherlich in manchen Situationen heutzutage auch noch so. Wenn ich in der Reithalle bin und mein Pferd wird langsamer oder stoppt, dann ist das nicht wie früher, wo man kurz den Überblick hatte: Da ist nichts, und ich reite weiter. Jetzt hält man an, fragt nach."

Langer Lernprozess

Nach über zwanzig Jahren kann Anne-Greta Schricker mit solchen Situationen souverän umgehen. Ihre Freundin und Schülerin Imke Heinrich steht noch am Anfang dieses Weges. Die Fünfzehnjährige ist vor drei Jahren erblindet.

Auch Imke möchte unbedingt wieder aufs Pferd und ist mit der Hilfe von Anne dabei, die ersten Hürden zu meistern. Ein schwieriger Weg liegt noch vor ihr: "Zu Anfang konnte ich alleine Schritt reiten und dann eben nur zehn Minuten, weil das für mich so anstrengend war. Zu Anfang weiß man gar nicht, wo man gerade ist. Weil irgendwie will man oder versucht man, irgendwie etwas zu sehen: 'Wo bin ich jetzt?' Und dann klappt das nicht. Das ist so sehr schwer."

Gehirn muss sich umgewöhnen

Die Orientierung mit den Ohren ist eine enorme Sinnesleistung, die nicht von heute auf morgen möglich ist. Das Gehirn braucht einige Zeit, um sich darauf einzustellen.

Sehsinn und Hörsinn haben im Gehirn eigene Verarbeitungszentren – den auditiven und den visuellen Kortex. Sinnesreize wie das Schnalzen müssen bei Blinden viel intensiver verarbeitet und ausgewertet werden.

Dafür läuft der auditive Kortex auf Hochtouren. Und nach einigem Training holt sich das Gehirn noch mehr Hilfe: Auch der visuelle Kortex analysiert die akustischen Reize. Das Gehirn muss also lernen, den visuellen Bereich für völlig neue Aufgaben zu nutzen, - eine ungeheure Anpassungsleitung.

Die verbleibenden Sinne können zwar das fehlende Augenlicht nicht ersetzen, aber doch soweit kompensieren, dass Blinden die Orientierung erstaunlich wenig Probleme macht. So kann Anne sogar hören, wie Imke in der Halle reitet und ihr Unterricht erteilen.

Erste Ritts ins Gelände

Anne-Greta Schricker will selbst nun noch weiter über ihre Grenzen hinausgehen und reitet seit einiger Zeit sogar wieder allein in bekanntes Gelände – auch wenn das, wie sie zugibt, eigentlich nicht nur mutig, sondern “Wahnsinn” sei.

Blind so mobil zu sein wie Anne-Greta Schricker ist auch eine enorme persönliche Leistung. Doch ihr Beispiel zeigt, wie unglaublich flexibel Körper und Geist auf den Verlust eines Sinnes reagieren können.

Autorin: Natalie Reinking

Stand: 11.05.2012 13:03 Uhr

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