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Das Rätsel der Kasseler Skelette

Es ist meistens reiner Zufall, wenn heutzutage unter der Erde Zeugnisse der Vergangenheit gefunden werden.

Meist sind das Tonscherben, alte Münzen – oder auch Bomben, die bei Bauarbeiten gefunden werden. Doch was Bauarbeiter auf einer Kasseler Baustelle fanden, verschlug einem dann doch den Atem.

Leichen in zwei Metern Tiefe

16. Januar 2008: Auf dem Gelände der Universität Kassel tauchen bei Bauarbeiten plötzlich die Skelette mehrerer Menschen auf. Verscharrt in knapp zwei Metern Tiefe. Die ungeklärte Identität der Toten ruft zunächst die Kassler Kripo auf den Plan.

Dirk Kleinhans ist Experte für Spurensicherung. Zusammen mit seinem Team hat er den Fundort akribisch untersucht und alles dokumentiert. Nun beschäftigt ihn die Frage, wie diese Menschen zu Tode gekommen sind: "Wenn Knochen außerhalb von Friedhöfen gefunden werden, dann muss man natürlich auch an Verbrechen denken. Das heißt: Man muss gucken: Wo kommen die her? Wie alt sind die?" Die Unsicherheit bei Bauarbeitern und Kripo ist groß, schildert Kleinhans: "Und dann, bei weiteren Baggerarbeiten am nächsten Tag, sind dann weitere Knochen gefunden worden. Und da sind wir da erst richtig ins Boot gekommen. Das heißt: Wir haben angefangen, Grabungen zu machen."

Weitere Leichenfunde

Und je weiter gegraben wird, desto mehr Tote tauchen auf. Aus anfänglich vier menschlichen Skeletten werden am Ende über sechzig Stück. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht vom spektakulären Fund in der Stadt. Immer mehr Menschen kommen an den Bauzaun. Auch sie fragen sich: Was ist hier passiert?

Gehören die Toten zu den 0pfern eines Bombenangriffs im Oktober 1943, bei dem mehr als zehntausend Menschen starben? Oder handelt es sich gar, wie manche meinen, um Zwangsarbeiter, die hier von den Nazis erschossen wurden?

Gebisse der Leichen geben erste Hinweise

In der Rechtmedizin Gießen soll der Pathologe Marcel Verhoff Licht ins Dunkel bringen. Ihm fällt zunächst auf, dass keines der Skelette Spuren von Schusswunden oder anderen Verletzungen aufweist.

Und als er die Zähne der Toten untersucht, macht ihn noch etwas anderes stutzig: "Es ist auffällig, dass an keinem der untersuchten Zähne irgendwelche Plomben, Füllungen oder dergleichen waren. Auf der anderen Seite aber waren zahlreiche Zähne behandlungsbedürftig. Und daraus lässt sich schließen, dass es sich hier nicht um einen Zeitraum handelte in der Größenordung um den Zweiten Weltkrieg, sondern deutlich davor."

Keine Kriegsopfer

Auch ein junger Kasseler Architekt und Historiker hat von Anfang an Zweifel daran, dass es sich bei den Toten um Kriegsopfer handelte. Als Christian Presche im Fernsehen von dem spektakulären Fund erfährt, wird er hellhörig. Er kennt sich gut aus in der Geschichte der nordhessischen Stadt und sichtet nun alte Baupläne und Dokumente.

Dabei merkt er schnell, dass die Toten nicht aus dem 20. Jahrhundert stammen können: "Dagegen sprach, dass mehrere Skelette unter Mauern lagen, die erst in den 30er Jahren erreichtet wurden. Es gab mehrere Zeugenaussagen, dass schon nach dem ersten Weltkrieg dort Gebeine gefunden wurden auf dem Gelände. Also mussten sie deutlich älter sein. Da lag es nun nahe, an zwei Lazarette zu denken, die im 19. Jahrhundert in dem Bereich waren."

Indzien auf ein Lazarett

Presche forscht weiter und stößt auf Dokumente, die seine Vermutung bestätigen. In einem Text findet er den vielleicht entscheidenden Hinweis:

"...Im Jahr 1814 brach in unserer Stadt(...) ein sehr heftiger bösartiger Typhus aus, welcher viele Einwohner hinwegraffte. Da das damalige Militär-Hospital (...) nicht (...) ausreichte, so wurde eine Kaserne (...) sofort zu einem Militärlazareth verwendet, und es findet sich kein Gebäude in Cassel, aus welchem so viele Seelen in das Jenseits hinübergegangen sind, als aus diesem Hause(...)"

Handelt es sich bei den Toten also um Opfer der beschriebenen Typhus-Epidemie von 1814? Oder sind die Skelette womöglich noch viel älter, und die Toten starben gar nicht in diesem Lazarett? Christian Presche will es nun genau wissen. Beim Vergleich alter Zeichnungen fällt ihm auf, dass das Gelände bis 1780 flach abfallend war.

Erst danach wurde es aufgeschüttet. Presche ist sich sicher, dass die Toten in genau dieser Aufschüttung begraben wurden: "Die Toten wurden zunächst sorgfältig beigesetzt. Später, in den weiteren Beisetzungsphasen ging es dann doch chaotischer zu. Das heißt: die Sterblichkeit muss gestiegen sein."

Typhus-Epidemie breitete sich rasant aus

Doch es bleiben noch Zweifel: Warum, fragen Kritiker, soll man die Typhus-verseuchten Toten direkt neben diesem Bach begraben haben, aus dem Tausende von Menschen damals ihr Trinkwasser bezogen? Auch hier könnten Pathologen die entscheidenden Antworten geben. Sie wollen jetzt mit einer aufwändigen Knochenanalyse die genaue Liegezeit der Skelette bestimmen.

Ergebnisse der Knochenanalyse liegen noch nicht vor. Zumindest haben die meisten der rätselhaften Toten vom Kasseler Unigelände inzwischen ihre allerletzte Ruhestätte gefunden. Sie sind auf Kassels Hauptfriedhof würdig beigesetzt worden. Und vielleicht wird man in einigen Monaten endgültig wissen, welches Schicksal sie tatsächlich ereilte.

Autor: Stefan Venator

Stand: 11.05.2012 13:04 Uhr

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