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Nur neunzig Minuten

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in den westlichen Ländern die Todesursache Nummer eins. Die Risikofaktoren sind bekannt: Übergewicht, Rauchen und Bewegungsmangel erhöhen die Chance, in den Händen eines Notfallmediziners zu landen.

Von den rund 280.000 Deutschen, die jedes Jahr einen Herzinfarkt erleiden, sterben mehr als 170.000 an den Folgen. Es müssten nicht so viele sein. Ein Modellprojekt im Landkreis Hildesheim zeigt, wie die Zeit bis zur Behandlung im Krankenhaus mit einfachen Mitteln durchschnittlich um eine Stunde reduziert werden kann.

Jede Minute zählt

Bei einem schweren Herzinfarkt zählt für den Patienten jede Minute. Meist ist eine der großen ‚Arterien verstopft, die das Herz mit sauerstoffreichem Blut versorgen. Das unterversorgte Herzgewebe kann nicht mehr arbeiten und die Zellen des Herzmuskels beginnen langsam abzusterben. Nur eine Öffnung der Blutbahn kann das Herz jetzt vor bleibenden Schäden oder gar vor dem endgültigen Untergang bewahren. Aus Tierversuchen wissen die Mediziner, dass nach dem Infarkt rund 90 Minuten bleiben, bis das Herzgewebe unwiderruflich geschädigt ist.

Als eines der besten Mittel zu Behandlung schwerer, so genannter ST-Hebungsinfarkte, hat sich die Methode der Ballondilatation erwiesen. Dabei wird dem Patienten im Krankenhaus ein dünner Schlauch, der so genannte Herzkatheter, über die Leistenarterie bis zum Herz geschoben und dort ein kleiner Gummiballon aufgeblasen, der das Gefäß weitet und so öffnet. Die Behandlung mit einem Herzkatheter ist nur in speziell ausgerüsteten Krankenhäusern möglich.

Regionales Herzinfarktnetz

Da nicht jedes Krankenhaus Herzinfarktpatienten mit einem Herzkatheter behandeln kann, sprechen sich in etlichen Regionen Deutschlands die Kliniken untereinander ab. Solche Herzinfarktnetze sollen dafür sorgen, dass bei einem Patienten ein schwerer Herzinfarkt sofort erkannt wird und dass die Rettungskräfte ihn gleich in das Krankenhaus bringen, in dem es ein Herzkatheterlabor gibt.

Im Landkreis Hildesheim gibt es seit einigen Jahren ein solches Netz. Die Rolle der Spezialklinik im Verbund aus drei Krankenhäusern nimmt das St.-Bernward-Krankenhaus in Hildesheim ein. Das Hildesheimer Netz war Anfang 2006 relativ gut ausgebaut – viele der Rettungswagen haben ein Funk-EKG dabei, mit dem die Herzstromkurven eines Patienten direkt vom Einsatzort zu den Spezialisten in Hildesheim gefaxt werden.

Notfall-OP bekommt Daten direkt vom Einsatzort

Anfang 2006 nahmen die Hildesheimer ihr Netz genau unter die Lupe, um herauszufinden, wie viel Zeit verging, bis ein Patient mit dem Herzkatheter behandelt wurde. Das Ergebnis war ernüchternd: Es dauerte im Schnitt 129 Minuten vom Notruf bis zur Öffnung des Herzgefäßes. Damit wollten sich die Herzspezialisten um den Hildesheimer Chefarzt Karl Heinrich Scholz nicht zufrieden geben.

Akribisch verzeichneten sie über einen Zeitraum von drei Monaten bei jedem Fall genau, welcher Schritt in der Rettungskette wie viel Zeit brauchte. Diese Ergebnisse gaben sie wiederum an Rettungskräfte, Einsatzleitung und Ärzte zurück und forderten sie auf, ihren eigenen Bereich und die Übergabe an die nächste Station zu optimieren.

Erstbehandlung im Rettungswagen

Der Effekt dieses Feedbacks übertraf die Erwartungen aller Beteiligten: In praktisch allen Bereichen konnten sich die Nothelfer verbessern. Die Rettungskräfte verlegten einen Teil der Erstbehandlung in den fahrenden Rettungswagen, in der Klinik werden die Patienten jetzt konsequent an der Notaufnahme vorbei direkt ins Herzkatheterlabor gebracht. Dort steht - durch eine optimierte Vorwarnung - zu jeder Tages- und Nachtzeit das Herzkatheter-Team bereit.

Auch in der Behandlung selbst wurden die Abläufe optimiert und wertvolle Minuten gewonnen. Innerhalb von neun Monaten sank die durchschnittliche "Contact-to-Ballon"-Zeit von 129 auf 76 Minuten.

Modell macht Schule

Die Herzinfarktspezialisten in Hildesheim waren selbst von der enormen Zeitersparnis überrascht, die sie mit einfachen Methoden erreichen konnten. Eine Stunde schneller behandelt zu werden, erhöht auch die Chance, dass der Herzinfarktpatient am Leben bleibt und auch weniger bleibende Schäden davonträgt.

Zwar ist das Projekt noch zu jung und die Zahl der im optimierten System Behandelten noch zu gering, um gesicherte Aussagen machen zu können. Daten aus den USA weisen jedoch darauf hin, dass pro gesparter Viertelstunde rund 6 Patienten von 1000 zusätzlich überleben.

Umsetzung in anderen Regionen

Wenn das Hildesheimer Modell in ganz Deutschland zum Einsatz käme und überall ähnliche Verbesserungen möglich wären, würde das bedeuten, dass vermutlich mehrere tausend Menschen im Jahr nicht an ihrem schweren Herzinfarkt sterben müssten.

Seit dem vergangenen Jahr koordiniert der Hildesheimer Chefarzt Karl Heinrich Scholz ein Projekt, in dem das Modell in vielen anderen Kliniken erprobt wird. Die Zahlen, die aus ganz Deutschland bei ihm zusammenlaufen, sprechen eine deutliche Sprache: Es gibt kein Herzinfarktnetz, das nicht noch erheblich besser werden könnte.

Autor: Daniel Münter

Stand: 08.11.2012 17:29 Uhr

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