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Fantastisches Gedächtnis

Gehirn blockiert Abruf

Orlando Serrell
Orlando Serrell | Bild: SWR

Wir wissen viel mehr, als uns bewusst ist. Doch normalerweise unterdrückt unser Gehirn einen Teil der gespeicherten Informationen. "Inselbegabte", auch "Savants" genannt, können sie abrufen und für ihre verblüffenden Fähigkeiten nutzen. So erinnert sich der Amerikaner Orlando Serrell an faszinierend viele Details lange zurückliegender Tage. Er weiß zu jedem Datum den Wochentag, ohne vorher darüber nachzudenken. Sein Hirn speichert Kleinigkeiten, die die meisten von uns sofort wieder vergessen. Die Speicherkapazität scheint unbegrenzt zu sein. Fähigkeiten von Menschen mit "Savant-Syndrom" wie Orlando Serrell geben den Wissenschaftlern Rätsel auf. Doch sie lassen auch erstaunliche Thesen zu.

„Es ist nicht so, dass Savants Tag und Nacht üben und das bringt sie auf dieses Level. Mein Ziel ist es, zu beweisen, dass wir alle Savant-Fähigkeiten haben. Aber sie werden von unserem Gehirn absichtlich unterdrückt“, sagt Neurowissenschaftler Allan Snyder. Für ihn beweist Orlando Serrell, „dass wir alle diese Fähigkeiten haben“. Denn der Amerikaner ist nicht von Geburt an hochbegabt. Durch einen Unfall wurde er von einer Sekunde auf die andere zum Savant mit verblüffendem Wissen.

Spiel mit Folgen

Bis zum 17. August 1979 war Orlando Serrell ein unauffälliges Kind. Mit seinen Freunden traf sich der damals 10-Jährige in Newport News Virginia zum Baseball. „Als ich zur ersten Base lief, hat ein Junge den Ball geworfen und mich damit an der linken Seite meines Kopfes getroffen“, berichtet der Amerikaner. Der Ball traf ihn so hart, dass der Junge zu Boden ging und minutenlang bewusstlos liegen blieb. Seit diesem Unfall kann er zu jedem Datum den entsprechenden Wochentag nennen. Noch nie hat er sich dabei geirrt.

Seine verblüffenden Fähigkeiten stellen Greg Wallace und Jay Giedd vom National Institut of Mental Health in Washington auf den Prüfstand. Sie geben ihm ein Datum vor. Ohne zu zögern nennt Orlando Serrell den jeweiligen Wochentag und viele erstaunliche Details. „13. Oktober 1985, Samstag, bewölkt. Ich hatte so einen Kapuzenpulli an, der Kragen hinten war schwarz. Es war echt wolkig, und dieses Mädchen, das ich kenne, ist in den Kramladen gegenüber gegangen – sie hatte weiße Tennisschuhe an und weiße Socken, Jeans, gelbes Top. Am Abend haben Run DMC, Curtis Blow und die Fat Boys im Colosseum gespielt, von fünf bis vier Uhr morgens, und auf dem Parkplatz sind Leute überfallen worden. Ganz schön viel für nur ein Gehirn – ich meine, das war vor 20 Jahren!“

Ungelöstes Rätsel

Wie er das schafft, weiß auch Orlando Serrell nicht. „Keine Ahnung. Kein Lernen, kein Aufschreiben. Ich schreibe nichts in ein Tagebuch. Ich mache nichts anderes als jeder andere Mensch auch“, sagt er. „Irgendwas in Orlandos Gehirn sorgt dafür, dass er sich an Dinge erinnert, die die meisten von uns sofort wieder vergessen“, erklärt Wissenschaftler Jay Giedd. „Die Kapazitäten unseres Gehirns sind wirklich verblüffend. Wenn Orlando all diese Kleinigkeiten behalten kann, könnten wir uns nicht alle an viel mehr erinnern?“

Um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, haben Neurowissenschaftler in den vergangenen Jahren Orlandos Fähigkeiten mit modernster Technik getestet. Im Kernspintomografen können sie sozusagen in seinen Kopf schauen, während er die ihm gestellten Aufgaben löst. Doch bisher konnten sie nicht klären, wie es Orlando Serrell gelingt, auf seine scheinbar unerschöpflichen Gedächtnisinhalte zurückzugreifen.

Die Inselbegabung ist ein ungelöstes Rätsel. Dennoch hoffen einige Wissenschaftler, die Ergebnisse der Savant-Forschung auch für Menschen ohne das Syndrom nutzen zu können. Fälle wie der des Orlando Serrell bestärken sie darin.

Autoren: Friederike Schmidt-Vogt, Petra Höfer, Freddie Röckenhaus (SWR)

Stand: 30.04.2013 15:48 Uhr

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