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Folgenreicher Gedächtnisstreich

Sekunden, die über Schicksale entscheiden: Sie betreten ein Bürogebäude, lassen zufällig die Blicke aus dem Fenster schweifen – und sehen einen jungen Mann, der dort auf der Dachterrasse an etwas herumbastelt. Er erblickt Sie – und rennt davon. Wenig später explodiert eine Bombe – und Sie als Überlebender bestimmen bei einer Gegenüberstellung, wer von den neun Männern, die in einer Reihe vor Ihnen stehen, der Täter war. Wer ein Leben lang ins Gefängnis muss.
Können sich Zeugen auf ihr Gedächtnis verlassen?

Die Tat

Jennifer Thompson-Cannino als junges Mädchen
Jennifer als Studentin | Bild: Provatbesitz

Nicht, wenn es nach Ron Cotton und Jennifer Thompson-Cannino geht, die nach Columbus, Ohio, gekommen sind, um vor dem Kongress als Betroffene auszusagen. Heute sind der schwarze Automechaniker und die weiße Geschäftsfrau enge Freunde. Doch 1984 brachte Jennifer Ron mit ihrer Zeugen-Aussage hinter Gittern. Lebenslänglich.

Als Studentin war sie eines Nachts in ihrem Haus brutal vergewaltigt worden. Vor den Abgeordneten schildert sie ihre beiden wichtigsten Strategien während der Tat: Überleben. Und die Hoffnung auf spätere Gerechtigkeit: “Während der Vergewaltigung habe ich mich ganz stark auf das Aussehen des Täters konzentriert. Ich merkte mir jede Einzelheit – wollte der Polizei im Falle meines Überlebens helfen, diesen Mann zu schnappen, damit er nie mehr einer anderen Frau etwas antun konnte.”

Der falsche Verurteilte

Die damalige Gegenüberstellung
Die damalige Gegenüberstellung | Bild: NDR

Wenige Tage später identifizierte Jennifer Ronald Cotton. In der Gerichtsverhandlung war sie souverän und überzeugend. Die Jury beriet nur 40 Minuten. Das Urteil: schuldig in allen Punkten, lebenslänglich plus 50 Jahre.

Doch Cotton beteuerte weiter seine Unschuld. Durch einen unglaublichen Zufall traf er im Gefängnis einen Mann, der einem Mithäftling gegenüber die Vergewaltigung gestanden hatte. In einem zweiten Prozess stand Jennifer auf einmal ihrem wirklichen Vergewaltiger gegenüber, Bobby Poole. Ihre Reaktion: „Nichts. Ich fragte mich: Wer ist der Typ? Den Mann hab ich niemals zuvor gesehen. Dann fragten sie mich: Siehst du hier den Mann, der dich vergewaltigt hat, und ich hebe den Arm, zeige auf ihn und sage 'Ja, Ronald Cotton'.”

Cotton wurde zum zweiten Mal für eine Tat verurteilt, die er nicht begangen hatte, diesmal zwei Mal lebenslänglich. Erst sechs Jahre später sollten DNA-Analysen seine Unschuld bestätigen.

Die unabsichtliche Falschaussage

Phantombild, Beschuldigter und Täter
Täter. Phantombild, Beschuldigter | Bild: NDR

Über die Streiche, die uns unser Gedächtnis spielen kann, weiß kaum einer mehr als Gary Wells, eine Kapazität auf dem Gebiet der Augenzeugen-Forschung. In einem Laborraum der University of Iowa in Ames demonstriert er an einem Bildschirm, wie aus einer Unzahl von Einzelelementen wie Augenbrauen, Haaren, Lachfalten und Brillen ein Phantombild erstellt wird. Und welche Probleme dabei entstehen können: „Da sehen wir den wirklichen Täter, Bobby Pool, und dann haben wir das Phantombild. Das trifft Ronald Cotton ziemlich gut, wie wir hier sehen. Doch das gilt auch für Bobby Pool. Jennifer war eine gute Zeugin, wenn man so will. Das große Problem der Gegenüberstellung ist aber: Der wirkliche Täter, Bobby Pool, war nicht dabei. Und das bedeutete ein großes Risiko für Cotton, fälschlich identifiziert zu werden.“

Die Forschung

Ein typischer Fehler besteht für Wells zudem darin, Zeugen wie Jennifer gleichzeitig mehrere Fotos zu präsentieren. Sie erinnert sich, die Original-Bilder liegen vor ihr auf dem Tisch: „Beim Betrachten dieser Photos hier denke ich: 'Ich kann sofort vier von ihnen streichen' – Nein. Nein. Nein. Nein. Und als ich dann Ronalds Photo studiere, denke ich: 'die Ohren. Die Nase. Die Lippen... – die Haare sind etwas länger. Aber: Das ist er!'“

Die Forschung von Wells hat ergeben: Es ist weit besser, die Verdächtigen sequenziell, also einzeln nacheinander zu präsentieren: „Der Grund, warum das einen Unschuldigen besser schützen kann: Anstatt die Verdächtigen miteinander zu vergleichen und zu sagen, wer sieht am ähnlichsten aus, zwingt es die Zeugen, jedes Photo mit ihrem Gedächtnis zu vergleichen und zu entscheiden: 'Ist das die Person oder nicht?'“

Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Photos, sondern auch für die spätere Gegenüberstellung. Beide Sitzungen sollten zudem am besten von Beamten durchgeführt werden, die selbst nicht wissen, wer der Verdächtige ist. Denn dass die Polizisten Jennifer bestätigten - „Gute Arbeit. Bei der Gegenüberstellung haben Sie den gleichen Täter genannt wie bei den Photos“ - bestärkte ihre Überzeugung, den richtigen Täter identifiziert zu haben.

Die Fehler im System

Als Opfer der falschen Polizei-Methode kämpfen Ron und Jennifer unermüdlich für Reformen. Sie reisen durch Amerika und warnen vor dem blinden Vertrauen auf unser Gedächtnis. Vor einem Hörsaal voller Jura-Studenten an der Universität von Cincinnati kommt auch das größte Rätsel des Falles Thompson gegen Cotton zur Sprache: Wie konnte es passieren, dass Jennifer den echten Täter Bobby Pool nicht mehr erkannte und fest davon überzeugt war, dass Ronald Cotton die Tat begangen hatte?

Für Professor Wells ist das leider keine Ausnahme: „Die Phantombilder verändern oft die Erinnerung von Zeugen, indem die sich häufig eher an das Phantombild erinnern, das sie selbst erstellt haben, als an den wirklichen Täter. In Jennifers Fall wurde Ronald Cottons Gesicht ihre Erinnerung – und das verdrängte jede Erinnerung an Bobby Pool.“

Inzwischen beschäftigt die Problematik die ersten Landesparlamente in den USA. Doch Wandel ist schwer in einem Land, in dem viele unschuldig im Gefängnis sitzen, weil die Justiz sich scheut, selbst krasse Fehler zuzugeben. Jennifer hofft, das zu ändern: „Unser Justizsystem macht viele Fehler. Und ich empfinde es als Ehre, dass ich an den Verbesserungen mitwirken kann. Dass unsere Geschichte größer ist als meine Vergewaltigung und seine ungerechte Verurteilung. Es zeigt, wie Menschen über Tragödien triumphieren können.“

Ronald verbrachte 11 Jahre seines Lebens unschuldig im Gefängnis. Doch er verzieh Jennifer. Beide waren Opfer eines Systems, das bis heute große Mängel bei der Auswertung von Zeugenaussagen hat. Und das, obwohl die Forschung zeigt, wie es besser ginge.

Autor: Dominique Gradenwitz (NDR)

Stand: 11.05.2012 13:05 Uhr

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