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Singen statt Sprechen

Verlust der Sprache

Fast immer kommt er wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Ein Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Und diejenigen, die ihn überleben, sind oft schwer gezeichnet. Eine Folge von Schlaganfällen ist besonders gravierend – Aphasie: der Verlust der Sprache. Etwa ein Fünftel der Überlebenden eines Schlaganfalles sind davon betroffen. Ein Schlaganfall, der Aphasie verursacht, zerstört typischerweise Sprachregionen auf der linken Seite des Gehirns, unter anderem die sogenannte Broca-Region.

Melodische Intonationstherapie

Hilfe für Aphasie-Patienten: Melodische Intonationstherapie
Hilfe für Aphasie-Patienten: Melodische Intonationstherapie. | Bild: WDR

Patienten mit einer schweren Broca-Aphasie können Sprache zwar noch verstehen, sie sind aber nicht mehr oder kaum noch in der Lage, selbst zu sprechen. Oft können diese Patienten nicht einmal mehr ihren eigenen Namen sagen, eine extrem belastende Situation für Betroffene und für Angehörige. Für Menschen mit dieser schweren Form von Aphasie gab es bisher keine wirksame Therapie. Das könnte sich jetzt ändern: Zum ersten Mal wurde an der Harvard Medical School eine Methode wissenschaftlich erforscht, mit der schwere Aphasiker wieder zum Sprechen gebracht werden können. Ihr Name: Melodische Intonationstherapie.

Singen als Vehikel

Singen hilft dabei, wieder sprechen zu lernen
Singen hilft dabei, wieder sprechen zu lernen. | Bild: WDR

Eine eigenartige Beobachtung steht am Anfang der Melodischen Intonationstherapie. Bereits im Jahr 1973 stellt der Arzt Martin Albert in Boston fest, dass Aphasie-Patienten, bei denen Teile der linken Gehirnhälfte zerstört waren, zwar oft kein einziges Wort mehr sprechen, dafür aber noch Lieder mit Wörtern singen können! Beim Singen und anderer musikalischer Betätigung, das weiß man, ist überwiegend die rechte Gehirnhälfte aktiv. Anscheinend, so die überraschende Erkenntnis, gibt es auf dieser Seite aber auch Areale, die Sprache verarbeiten können – eine Fähigkeit, die man bisher ausschließlich der linken Hirnhälfte zugeordnet hatte. Diese Beobachtung ist die Initialzündung der Melodischen Intonationstherapie. Durch Singen, so die Hoffnung der Ärzte, könnte möglicherweise ein Ersatz-Sprach-Netzwerk auf der rechten, unzerstörten Hirnseite aktiviert werden, das die Funktionen der zerstörten Sprachzentren auf der linken Seite übernimmt.

Durch Singen zum Sprechen

Singen als Vehikel, über das Aphasie-Patienten wieder neu sprechen lernen: Diese Idee klingt bestechend – allerdings wurde bisher noch nie wissenschaftlich untersucht, ob diese Therapie wirklich funktioniert und was sie im Gehirn bewirkt. An diese Aufgabe hat sich jetzt zum ersten Mal eine Gruppe um den aus Deutschland stammenden Neurologen und Musiker Gottfried Schlaug gemacht. Die Melodische Intonationstherapie, wie sie in Boston an Patienten mit schwerer Broca-Aphasie praktiziert und untersucht wird, hat zwei Grundelemente: Melodie und Rhythmus. Die Patienten lernen, angeleitet durch einen Therapeuten, Wörter zu singen – Wörter, die später zu einfachen und dann zunehmend längeren Sätzen aneinander gereiht werden. Begleitet wird das Singen durch rhythmisches Klopfen mit der linken Hand: Es soll Hirnareale anregen, die für die Verknüpfungen von Tönen und Motorik wichtig sind. Im Verlauf der Therapie lernen die Patienten die Wörter und Sätze, die sie zunächst nur singen können, wieder sprechen – ohne Gesang.

Reserve-Areale für die Sprache

Die Ergebnisse erster Studien liegen inzwischen vor – und sie sind spektakulär: Patienten, die vor der Therapie kein Wort sprechen konnten, hatten nach 75 Therapie-Sitzungen wieder einen Wortschatz von mehreren hundert bis einigen tausend Wörtern. Das ist zwar weit weniger, als sie früher hatten, aber viel mehr, als jede andere Therapie bisher bewirken konnte. Und die Forscher fanden noch etwas Entscheidendes heraus. Kernspin-Aufnahmen vor und nach der Behandlung zeigten, dass sich durch die Therapie auch das Gehirn der Patienten verändert hatte: Nach der Therapie war die Aktivierung von Arealen der rechten Hirnhälfte deutlich stärker als vorher. Dass diese Veränderungen tatsächlich auf das Konto der Melodischen Intonationstherapie zuzuschreiben sind, konnte Schlaug mit einer Vergleichstudie nachweisen. Die Hoffnung der Wissenschaftler hat sich also bestätigt: Areale der rechten Gehirnhälfte haben tatsächlich die Funktionen der zerstörten Sprachareale der linken Gehirnhälfte übernommen.

Entscheidender Anfang

Sprechen lernen
Sprechen lernen. | Bild: WDR

Die Erforschung der Melodischen Intonationstherapie steht noch am Anfang. Aber nach den ersten, vielversprechenden Ergebnissen der Forschungsgruppe an der Harvard Medical School könnte diese musikalische Methode künftig zu einem Segen für diejenigen Aphasie-Patienten werden, denen mit herkömmlicher Sprachtherapie bisher nicht zu helfen war. Diesen Patienten, die nach einem Schlaganfall überhaupt nicht mehr sprechen können, ermöglicht die Therapie die Überwindung einer bisher unpassierbaren Hürde: Sie ermöglicht ihnen überhaupt wieder, Wörter zu sprechen. Dieser Übergang von nichts zu etwas ist entscheidend, denn ist er einmal gemacht, können auch konventionelle Sprachtherapien ansetzen und den Wortschatz weiter vergrößern helfen.

Adressen & Links

Website von Prof. Gottfried Schlaug an der Harvard Medical School in Boston:
www.musicianbrain.com

Auf der Website von Gottfried Schlaug und seinem Institut an der Harvard Medical School finden Interessenten Information über die Melodische Intonationstherapie und eine Email-Adresse von Prof. Schlaug.

Wissenschaftliche Artikel von Gottfried Schlaug über die Melodische Intonationstherapie:
Singing to speaking (pdf)

Norton Melodic Intonation Therapy (pdf)

Eine Therapie, die einen ähnlichen Ansatz verfolgt wie die Melodische Intonationstherapie wird auf dieser deutschsprachigen Website vorgestellt:
www.sipari.de (pdf)

Autor: Jakob Kneser (WDR)

Stand: 14.11.2014 10:54 Uhr

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