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Alles rote Grütze?

Aufschrift auf der Packung eines Schokodesserts
Große Versprechungen finden sich auf so mancher Verpackung | Bild: WDR

In Deutschland ist die Irreführung des Verbrauchers im Prinzip verboten. Das deutsche Lebensmittelrecht und die Praxis der Kennzeichnung sind aber so kompliziert, dass die Hersteller ganz legal Kunden an der Nase herumführen können. Bei jedem Einkauf buhlen die Lebensmittelhersteller um Aufmerksamkeit des Käufers und wenn man den Etiketten Glauben schenkt, dann ist fast jedes Produkt gut und gesund für uns und außerdem viel besser als noch vor kurzem. Vieles ist mehr Schein als Sein - schöne Bildchen auf der Verpackung, die nichts mit dem Inhalt zu tun haben, werden aber leider ebenso wenig geahndet wie bewusst missverständliche Botschaften.

Rote Grütze ohne Früchte

Bei den Recherchen zu ihrem neuen Buch über die Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie konnte die Journalistin Tanja Busse aus den Vollen schöpfen: Im Supermarkt fand sie Müsliriegel, die kaum Körner enthielten, "gesunde" Kinderdrinks mit einem Drittel Zucker und Olivenölcreme, die nur zu 20 Prozent aus Olivenöl bestand - dafür aber nachträglich zugesetztes Olivenaroma enthielt. Diese Produkte bewegen sich haarscharf an der Grenze zur Verbrauchertäuschung – und die ist in Deutschland gesetzlich verboten.

Deshalb war sich Tanja Busse auch sicher, einen Gesetzesverstoß entdeckt zu haben als sie das Billigdessert "Rote Grütze" des Lebensmittelriesen Campina in der Hand hielt. Denn Rote Grütze muss nach dem Deutschen Lebensmittelbuch einen Fruchtanteil von mindestens 50 Prozent haben. Das Dessert von Campina enthält gar keine rote Frucht.

Muss nicht drin sein, was drauf steht?

Ein klarer Fall - sollte man meinen. Doch die Auskunft der zuständigen Lebensmittelaufsicht in Gütersloh war ernüchternd: Mit der fruchtlosen Roten Grütze aus dem Hause Campina sei alles in bester Ordnung. Unter dem Schriftzug "Rote Grütze" stehe nämlich noch "Dessert", und das sei die eigentliche Verkehrsbezeichnung. Die Beamten schrieben der Journalistin wörtlich: "Die genaue Bezeichnung des Produktes lautet: Feine Dessertcreme Himbeergeschmack mit geschlagener Sahne. Der Zusatz "Rote Grütze" ist als Hinweis auf eine fruchtige Geschmacksrichtung zu sehen." Auf dem Deckel prangt allerdings riesig der Schriftzug "Rote Grütze" und nur ganz klein darunter die Bezeichnung "Dessertcreme".

Auch zuerst ungläubiges und dann empörtes Nachfragen von Tanja Busse führte nicht weiter. Die Zulassungsbehörde stellte sich auf den Standpunkt, die Verantwortung liege ganz beim Kunden: "Der mündige Verbraucher kann nämlich durch die Aufmachung (durchsichtige Verpackung, Zutatenliste) leicht erkennen, dass es sich um ein Dessert handelt." Es liege daher keine Irreführung des Verbrauchers vor. Mit anderen Worten -jeder kann ja sehen, dass nicht drin ist, was draufsteht. Deshalb ist es keine Täuschung.

Staatlich sanktionierte Verbrauchertäuschung

Tanja Busse blieb am Ball, hakte immer wieder nach. Schließlich steht die Definition der Roten Grütze ausdrücklich im Deutschen Lebensmittelbuch. Die Leitsätze dort werden von einer Kommission von Beamten der Lebensmittelaufsicht, der Industrie und Verbraucherverbänden erstellt und beschreiben die Beschaffenheit von vielen hundert Nahrungsmitteln. Die Leitsätze sind zwar keine Gesetze, werden vor Gericht aber immer wieder als Richtschnur für den Verbraucherschutz bestätigt. Die Journalistin wollte nicht hinnehmen, dass die Lebensmittelaufsicht in diesem Fall ihrer Pflicht nicht nachkommt. Doch wochenlang wurde sie immer wieder vertröstet und glaubte schließlich nicht mehr an eine Einsicht der Behörden.

Im Januar 2010 kam dann doch noch die Kehrtwende. Die Lebensmittelüberwachung forderte Campina auf, das Etikett zu ändern. Der Druck durch die hartnäckige Journalistin scheint den Behörden doch unangenehm geworden zu sein. Doch es ist nur ein kleiner Erfolg. Die Behörde kam dem Hersteller weiter kulant entgegen: Alle schon produzierten Etiketten dürfen noch monatelang verkauft werden - die staatlich sanktionierte Irreführung des Verbrauchers ging also weiter. Und in den Regalen der Supermärkte tummeln sich weiter zahllose Produkte, deren wahre Zusammensetzung sich nur mit einer Ausbildung in Lebensmittelrecht durchschauen lässt.

Fachbegriffe

Deutsches Lebensmittelbuch

Sammlung von Leitsätzen, die von einer Kommission von Beamten der Lebensmittelaufsicht, der Industrie und Verbraucherverbänden erstellt werden. Sie beschreiben die Beschaffenheit von vielen hundert Nahrungsmitteln. Die Leitsätze sind zwar keine Gesetze, werden vor Gericht aber immer wieder als Richtschnur für den Verbraucherschutz bestätigt.

Verkehrsbezeichnung

Die Verkehrsbezeichnung beschreibt die Art des Lebensmittels, also etwa "Leberwurst", "Frischkäse", "Vollmilch", "Vanille-Pudding" oder eben "Rote Grütze".

Literatur

Tanja Busse
Die Ernährungsdiktatur: Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt
Karl Blessing Verlag (12. April 2010)
336 Seiten, EUR 16,95

Autor: Daniel Münter (WDR)

Stand: 29.07.2015 09:54 Uhr

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So., 08.08.10 | 17:03 Uhr
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