SENDETERMIN So., 17.10.10 | 17:03 Uhr | Das Erste

Volkszählung im Ozean

Oktopus
Wundersame Wesen leben in der Tiefsee | Bild: WDR/Mar-Eco

Es ist eine Welt wundersamer Wesen – und zugleich der größte Lebensraum der Erde: das Meer. Doch bis heute ist es erst zu einem Bruchteil erforscht. Dabei ist schon jetzt klar: Das Leben unterhalb der Wasseroberfläche der Ozeane ist von großer Bedeutung für unser Leben an Land. Die Ozeane produzieren Sauerstoff, sie speichern CO2, sind für den Klimahaushalt und das Wetter mitverantwortlich, reinigen und filtern das Wasser, sind Nahrungslieferant und Arbeitgeber. Doch wie viele kleine und große Tiere und Organismen in den Ozeanen leben, wovon sie sich ernähren, auf welche Weise sie sich fortpflanzen und wie sich der größte Lebensraum der Erde verändert hat – all das gilt es noch herauszufinden.

Eines der größten Forschungsprojekte der Welt

Das Forschungsschiff Senckenberg ist eine Woche lang auf der Nordsee unterwegs. An Bord sind Biologen, die sich in regelmäßigen Expeditionen auf die Suche nach neuen Tierarten begeben. Mit Hilfe eines Krans lassen sie einen metallischen Greifer zum Meeresboden hinab. Er bringt mit, was dort unten lebt: Muscheln, Krebse und Garnelen kommen zum Vorschein, aber auch viel Schlamm, in dem womöglich kleinste Larven und Wurmarten stecken. Die Funde werden an Bord in Gläser verpackt, für eine Untersuchung im Labor. Sie sind Teil eines der größten Forschungsprojekte weltweit, an dem sich das Senckenberg-Institut beteiligt: des "Census of Marine Life". Eine Art Volkszählung im Meer, die nach zehn Jahren Arbeit in diesem Herbst zu Ende geht. Nie zuvor haben sich Forscher so umfassend den Meeren gewidmet.

Am Deutschen Zentrum für Marine Biodiversitätsforschung in Wilhelmshaven, einer Außenstelle des Forschungsinstituts Senckenberg, leitet Pedro Martínez-Arbizu seit zehn Jahren die Mitarbeit am Unterwasser-Zensus. Schon damals hielt er ein solches Projekt für längst überfällig. Denn während die Wissenschaft inzwischen recht umfassend Bescheid wusste über die Artenvielfalt an Land oder über die Beschaffenheit des Mondes, war die Verbreitung der Arten im Meer noch ein großes Rätsel. Amerikanische Meeresforscher traten damals an eine Stiftung heran, die zehn Jahre lang die Weltraumforschung mitfinanziert hatte: die Alfred P. Sloan Foundation, gegründet vom ehemaligen Vorstand von General Motors. Sie konnten die Stiftung überzeugen, die Erkundung der Weltmeere zu unterstützen - mit einer Milliarde US-Dollar. Im Jahr 2000 fiel der Startschuss für den Census of Marine Life.

Inventur unter Wasser

An der Inventur unter Wasser beteiligten sich weltweit 2.700 Wissenschaftler aus über 80 Ländern. Ihr Ziel ist es, alle Tierarten im Ozean zu zählen und ihnen einen Namen zu geben. Eine Mammutaufgabe. In zahlreichen Laboren begannen sie, Proben von ihren Expeditionen in allen Meere der Welt zu sammeln – auch im Lagerraum in Wilhelmshaven stapeln sich seither die Probengläser. Die erste Aufgabe nach jeder Expedition ist es, die mitgebrachten Exemplare zu zählen. Dabei werden sie nach Tiergruppen sortiert. Doch schon bald nach Beginn des Zensus stießen die Forscher auf ein ungewöhnliches Problem: Bei jedem Tauchgang hinab in den Ozean fanden sie immer neue, fremdartige Lebewesen. Sie konnten gar nicht so schnell arbeiten, wie sie neue Tierarten entdeckten. Inzwischen vermuten die Forscher bis zu zehn Millionen verschiedene Arten im Meer. Das wären achtmal mehr Arten als an Land bisher bekannt sind. Damit hatte niemand gerechnet.

Zwei neue Arten pro Tag

Jeden ihrer Funde müssen die Forscher mühsam zeichnen und beschreiben. Nur so finden sie heraus, ob sie eine bisher unbekannte Tierart vor sich haben. Diese Arbeit haben sie auch schon vor Beginn des Census gemacht - doch mit der Finanzierung durch die Sloan Foundation waren zusätzliche Expeditionen möglich, konnten sich die Forscher erstmals weltweit vernetzen und damit beginnen eine Datenbank aufzubauen. Dennoch dauert es stets bis zu drei Jahren, bis die Forscher alle Exemplare einer einzigen Expedition untersucht haben. Von Tiefsee-Würmern über Muscheln bis zu Seesternen und Korallen: Allein am Senckenberginstitut haben sie in den zehn Jahren des Census of Marine Life über 500 neue Tierarten entdeckt. Weltweit waren es sogar über 5.600 neue Arten - im Schnitt zwei am Tag. Unter Biologen ist diese Zahl ein Rekord.

Historischer Abgleich

Am Hauptsitz des Senckenberg-Instituts in Frankfurt am Main wollen die Wissenschaftler indes nicht nur wissen, was heute in den Ozeanen lebt, sondern auch, wie sich das Leben im Meer verändert hat. Sie vergleichen ihre neuesten Funde mit Zeichnungen, die über hundert Jahre alt sind. Sie stammen von der ersten deutschen Tiefsee-Expedition - es war weltweit die zweite Expedition überhaupt, die sich der Tiefsee widmete. Eine englische Fahrt hatte zwei Jahrzehnte zuvor für Aufsehen gesorgt - und den deutschen Zoologen Carl Chun animiert, selbst ein solches Unterfangen zu starten. Auf dem Dampfer "Valdivia" stachen im Jahr 1898 zwölf deutsche Forscher in See, um die Welt unterhalb der Meeresoberfläche zu erkunden. Neun Monate lang waren sie in Regionen unterwegs, die niemand zuvor untersucht hatte, und holten mit selbst konstruierten Schließnetzen zahllose Lebewesen aus Tausenden Metern Tiefe an Bord. Die Fahrt wurde zur wissenschaftlichen Sensation. Erstmals wurde nachgewiesen, dass es in allen Wasserschichten zwischen Oberfläche und Meeresboden Leben gibt.

Das war erst der Anfang

Heute tragen die Meeresforscher die alten und neuen Funde in die Datenbank des Zensus ein. Fast 240.000 Arten kennen sie bisher insgesamt. Doch noch immer haben sie nicht alle Funde ausgewertet - und in vielen Meeresgebieten sind bis heute noch keine Forscher unterwegs gewesen. Auch ist noch offen, wie sich die Ozeane in den letzten Jahrhunderten verändert haben oder wie sie sich von Raubbau und Klimawandel erholen können. Die Arbeit der Forscher gerät zum Wettlauf gegen die Zeit. Denn nicht nur sie selbst haben es auf die Meere abgesehen, sondern auch die Fischerei und die Rohstoffindustrie, zudem drohen die Meere durch den Klimawandel zu versauern und durch gigantische Mengen Müll zu vergiften. Der Census of Marine Life ist im Oktober 2010 offiziell beendet. Doch die Forscher haben Angst, dass Regionen zerstört werden, bevor sie sie erkunden konnten. Sie werden daher mit ihren Expeditionen und ihrer Klassifizierung der Meeresbewohner weitermachen, auf eigene Faust und von nun an mit weniger Geld. Ihre Arbeit hat schließlich gerade erst begonnen.

Literatur

Chun, Carl
Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der Deutschen Tiefsee Expedition 1898–1899
Jena: Gustav Fischer 1900.

Röhrlich, Dagmar
Tiefsee. Von schwarzen Rauchern und blinkenden Fischen
Hamburg: Mare 2010

Trew Crist, Darlene; Scowcroft, Gail; Harding, Jr., James M.
Schatzkammer Ozean. Volkszählung in den Weltmeeren
Heidelberg: Spektrum 2010

Zierul, Sarah
Der Kampf um die Tiefsee. Wettlauf um die Rohstoffe der Erde
Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 2010

Autorin: Sarah Zierul (WDR)

Stand: 07.10.2013 17:08 Uhr

Sendetermin

So., 17.10.10 | 17:03 Uhr
Das Erste

Sprungmarken zur Textstelle

Externe Links