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Zurück ins Leben

Psychisch Kranke
Psychisch Krank: Leben in einer feindlichen Welt | Bild: Längengrad

Wandern ist gesund. Das ist schon beinahe eine Binsenweisheit. Die Bewegung an der frischen Luft jenseits von Computer und Fernseher tut dem Körper gut und auch der Seele. Was der in sich stabile Mensch ohne Probleme genießen kann, muss sich der psychisch Kranke hart erarbeiten. Für psychisch Kranke, seien sie depressiv, schizophren, paranoid, psychotisch oder drogenabhängig ist das Wandern in der Gruppe eine große Herausforderung. Sie nehmen ihre Umwelt anders wahr, als sie ist. Sie fühlen sich bedroht und ausgegrenzt. Die Welt, in der sie leben macht ihnen Angst, raubt manch einem gar den Lebensmut. Und gerade deshalb kann ihnen das Wandern helfen, mit Ihrer Krankheit zurechtzukommen.

Klug, aber krank

Frank, heute 49 Jahre alt, ist einer der Patienten, die von einer in Deutschland noch seltenen Therapie profitieren. Er ist schon während seiner Kindheit und Jugend ein Einzelgänger. Frank ist klug, gilt aber in der Klasse als "Streber" und wird von den Mitschülern gemieden. Er zieht sich zurück. Heute deutet er das als erste Anzeichen seiner Erkrankung. Trotzdem studiert er Jura, hat beide Staatsexamen erfolgreich absolviert. Doch den Herausforderungen des "wirklichen" Lebens ist er nicht gewachsen. Seine Psychose wird stärker: Er baut sich seine eigene Welt auf, eine Welt, die wenig mit der Realität zu tun hat, die ihn gefangen hält, ihn nicht mehr ins Hier und Jetzt zurück lässt. Er geht den klassischen Weg: Eine Odyssee von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik von Medikament zu Medikament auf der Suche nach Hilfe. Im St. Marien-Hospital in Herne findet er schließlich den richtigen Weg.

Wandern als Therapie

Vor 14 Jahren haben Ärzte und Therapeuten des St. Marien-Hospitals Eickel in Herne ein einzigartiges Projekt ins Leben gerufen: das Jakobuswegprojekt. Sie schicken ihre Patienten von Herne aus zum Wandern auf jenen berühmten Pilgerweg, der Santiago de Compostela in Spanien zum Ziel hat. Jeder Patient, der Lust und Laune hat, kann daran teilnehmen. Manch einer ist bereits seit 14 Jahren dabei und traute sich zu Beginn nicht zu, mehr als 200 Meter am Stück zu gehen. Gewandert wird in Etappen. Regelmäßig trainiert die Gruppe für das Highlight: 14 Tage wandern am Stück. Rund 20 Kilometer am Tag, 250 Kilometer insgesamt. Eine Herausforderung, nicht nur körperlich.

Balsam für die Seele

Ginge es nur um die körperliche Fitness, so könnten die Patienten auch in ein Sportstudio gehen. Viel wichtiger aber ist der positive Effekt des Wanderns, auch auf die lädierte Seele. Das Wandern schärft die Konzentration auf den Weg, es gibt die Möglichkeit zu angeregten Gesprächen, aber auch die Freiheit des Rückzugs von der Gruppe, es öffnet die Sinne für die Schönheit der Natur und hebt die Stimmung. Aspekte, die es in dieser Vielfalt und Kombination bei keiner anderen Sportart gibt. Das ist nicht nur gut für die lädierte Seele der psychisch Kranken. Es tut auch jedem „normalen“ Menschen gut, vor allem dann, wenn er viel Zeit vor dem Computer und in geschlossenen Räumen verbringt.

Der Weg ist das Ziel

Anfang September 2010 haben die Wanderer des Jakobuswegprojektes aus Herne nach 14 Jahren ihr großes Ziel Santiago de Compostela in Spanien erreicht. Das gemeinsame Erlebnis hat die Menschen zusammengeschweißt. Sie haben Freud und Leid miteinander geteilt, sich gegenseitig unterstützt – und es geschafft. Auch Frank ist aus seinem Schneckenhaus hervorgekommen. Er konnte erfahren, was in ihm steckt, hat gelernt, dass er nicht nur Defizite hat, sondern auch Qualitäten. Dazu kommt: "Wenn Patienten in der Lage sind, in das Jakobuswegprojekt einzusteigen, ein, zwei Jahre dort aktiv mitgearbeitet haben, ist es frappierend zu sehen, wie die Dosis, aber auch die Anzahl an Medikamenten abnehmen kann – nicht bei allen, aber bei einigen können wir da durchaus diesen Erfolg verzeichnen. Häufig brauchen sie nur noch eine sehr reduzierte Basismedikation und dann ist der Hauptwirkfaktor das Jakobuswegprojekt", so Chefarzt Dr. Peter Nyhuis.

Noch wissen sie nicht, wohin die Reise im nächsten Jahr gehen wird. Aber eines ist klar: Das Projekt wird fortgeführt. Denn der Weg ist das Ziel!

Adressen & Links

St. Marien-Hospital Eickel
Marienstr. 2
44651 Herne
www.marienhospital-eickel.de

Literatur

Paolo Coelho
Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreises nach Santiago de Compostela
Diogenes Verlag, 2001

Shirley MacLaine
Der Jakobsweg: Ein spirituelle Reise
Goldmann Verlag, 2001

Hape Kerkeling
Ich bin dann mal weg
Verlag Piper, 2007

Autor: Iris Rietdorf (SWR)

Stand: 19.03.2013 17:16 Uhr

Sendetermin

So., 26.09.10 | 17:03 Uhr
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