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Big Brother auf dem Kutter

In einem Fischernetz hat sich ein Kormoran verfangen
Fischernetze können verhängnisvoll für Seevögel sein | Bild: NDR

Die Heringsfischer im Greifswalder Bodden stehen seit Jahren unter Verdacht: Es heißt, dass sie nicht nur Fische fangen, sondern auch Tausende seltene Seevögel. "Wir wissen überhaupt nicht, wo die Zahlen herkommen," sagt Martin Lange, ein junger Fischer aus Freest an der Ostsee. Um sich gegen die Anschuldigungen zu wehren, haben er und einige Kollegen zu einem ungewöhnlichen Mittel gegriffen: Sie lassen sich bei der Arbeit an Bord lückenlos überwachen - von drei fest installierten Kameras.

Stellnetze als Vogelfallen?

Grafische Darstellung eines Stellnetzes
In Stellnetzen verheddern sich Heringe in den Maschen, aber wie oft auch Vögel? | Bild: NDR

Nur zwei Leute sind an Bord, wenn Martin Lange zum Fischen rausfährt. Meistens begleitet ihn sein Vater. Jedes Netz, das sie einholen und jeder Handgriff, den sie dafür tun, werden von den Überwachungskameras beobachtet. "Wir haben nichts zu verbergen, mich stört's nicht", sagt Martin Lange. Am Ende der Heringssaison werden Wissenschaftler vom Institut für Ostseefischerei in Rostock die Bilder der Überwachungskameras auswerten. Dann wird sich zeigen, wie viele Seevögel die Fischer wirklich fangen, und ob sie womöglich zu Unrecht am Pranger stehen.

Martin Lange und sein Vater benutzen Stellnetze. Die werden nicht wie Schleppnetze durchs Wasser gezogen, sondern im Meer ausgesetzt und einen Tag später wieder eingeholt. Unter Wasser wirken sie wie unsichtbare Wände, die Heringe schwimmen hinein und verheddern sich in den engen Maschen. Es ist sicher, dass sich auch Vögel in diesen Netzen verfangen. Nicht sicher ist, wie oft das passiert. Die Fischer sagen: "Hin und wieder". Tierschützer sprechen aber von mehr als 20.000 mitgefangenen Seevögeln allein bei der Stellnetzfischerei in Mecklenburg Vorpommern.

Zu wenig Hering? Oder zu viel?

Die Heringsfischer aus dem Greifswalder Bodden haben ganz andere Sorgen als die Seevögel. Vor allem beschäftigt sie, dass sie jedes Jahr weniger Fisch fangen dürfen. 30 Prozent weniger Hering als im letzten Jahr sind es bei Martin Lange: "Der Hering ist unser wichtigster Fisch. Deswegen trifft uns jedes Prozent Quotenkürzung. Ohne den Hering bräuchten wir nicht mehr Fischen zu fahren." An manchen Tagen fällt es den Fischern besonders schwer, die Quotenkürzung zu akzeptieren. Das sind die Tage, an denen die Netze so voll sind, dass sie auf ihrem kleinen Holzboot über meterhohe Stapel Hering klettern müssen. "Es ist wirklich für uns schwer zu verstehen, dass zu wenig Hering da sein soll, wie die Wissenschaftler sagen. Irgendwie stellen wir Jahr für Jahr wieder den Beweis an: Jungs, entweder irrt ihr euch, oder wir können nicht gucken, eins von beiden!"

Einer von den "Jungs", die jedes Jahr Empfehlungen für die Höhe der Fangquoten aussprechen, ist Christopher Zimmermann vom Institut für Ostseefischerei. Den Vorwurf, dass er sich irrt, kennt er schon. Und er hat eine einfache Erklärung für die Heringsschwemme im Bodden: "Der Hering kommt dahin, um abzulaichen. Der hat einprogrammiert: Wenn ich laichreif bin, muss ich in großen Schwärmen dahin einwandern, um da Jungtiere großzuziehen." Während die Fischer im Greifswalder Bodden also riesige Mengen Hering aus ihren Netzen pulen, sind andere Teile der Ostsee in dieser Zeit fast heringsfrei.

Volkszählung bei den Fischen

Ein Fisch wird vermessen und registriert
Wissenschaftler ermitteln jedes Jahr die Fischbestände in Nord- und Ostsee | Bild: NDR

Um zu klären, wie viele Fische einer Art es wirklich gibt, werfen die Wissenschaftler jedes Jahr selber die Netze aus - an unterschiedlichen Stellen in Nord- und Ostsee. Jeder Fisch wird bestimmt und danach die Fangquoten berechnet. In Europa gelten 80 Prozent der Bestände als überfischt. Das heißt nicht, dass diese Fischarten aussterben werden. Doch es wird sich bald nicht mehr lohnen, weiter auf Fischfang zu gehen, wie beim Kabeljau in der Nordsee.

Das größte Problem ist seit Jahren ungelöst: Die ungeheure Verschwendung von Speisefischen als Beifang. Denn nicht nur Seevögel landen im Netz, es trifft vor allem viele Fischarten, für deren Fang der Fischer keine Erlaubnis hat, oder Fische, die noch zu klein sind. Die EU schreibt vor, dass die Fischer diese Tiere zurück ins Meer werfen müssen: Sprottenfischer werfen Heringe zurück ins Meer, Schollenfischer kippen Dorsche über Bord. Die Regelung hilft jedoch weder den Fischen noch den Fischern, denn die meisten Fische überleben die Tortur an Bord nicht.

Neue Regelungen für den Beifang

Auf einem Fischerboot wird der Beifang ins Meer gelassen
Beifang soll durch neue Regeln möglichst verhindert werden | Bild: NDR

2012 könnte sich an dieser unsinnigen Regelung etwas ändern: Dann entscheidet die EU über eine Reform der Fischereipolitik. Eine Möglichkeit wäre ein "Anlandegebot": Die Fischer wären dabei gezwungen, alles, was sie an Bord holen, auch an Land zu bringen. Alles würde auf die Quote angerechnet, auch Arten, die der Fischer nicht verkaufen kann. Eine andere Möglichkeit wäre, den Rückwurf zwar weiterhin zu erlauben, aber trotzdem alles, was gefangen wird, auf die Quote anzurechnen.
Beide Varianten hätten einen Effekt: Wenn jeder Fisch an Deck auf die Quote zählt, wären die Fischer gezwungen, in schonendere Fangtechniken zu investieren. Zum Beispiel in Netze, die durch besonders angeordnete Maschen schon unter Wasser Fische aussortieren können und überwiegend die eine gewünschte Art fangen. Als Problem bliebe dann noch die Kontrolle.

Christopher Zimmermann vom Institut für Ostseefischerei glaubt, dass die Kameras, die derzeit Martin Lange und seinen Vater bei der Arbeit beobachten, auch zur Überwachung einer neuen Beifangregelung sinnvoll genutzt werden könnten. Wenn sie vorgeschrieben würden, ließe sich sicherstellen, dass alles, was gefischt wird, auch für die Quote zählt.

Das Ergebnis der Überwachung

Wie viel Beifang den Heringsfischern aus dem Greifswalder Bodden in die Netze ging, das werten Christopher Zimmermann und seine Kollegen jetzt aus und zwar die Überwachungsaufnahmen einer ganzen Heringssaison. "Bisher bestätigen die Daten die Aussage der Fischer. Dass sie Netze tatsächlich so setzen, dass sie Beifang vermeiden können", so Christopher Zimmermann. Es sieht so aus, als wären seltene Seevögel in den Netzen der Freester Heringsfischer in der Tat eher eine Ausnahme. Ebenso wie "falsche" Fischarten. Damit wäre die Stellnetzfischerei eine Fangmethode fast ohne Beifang - wie die Wissenschaftler vom Institut für Ostseefischerei sie gerne hätten.

Martin Lange und die anderen Fischer müssen noch eine weitere Heringssaison lang beweisen, dass die passive Fischerei mit Stellnetzen eine saubere Fangmethode ist. Falls ihnen das gelingt, winkt eine Belohnung, die sich wirtschaftlich auszahlen könnte: "Ich hoffe, dass wir es schaffen, als erster in Deutschland die passive Fischerei zur MSC Zertifizierung zu bekommen", sagt Martin Lange. "Dass wir das weltweite Zertifikat bekommen und zeigen: Wir haben Fisch, der ökologisch und umweltverträglich gefangen ist."

Autorin: Christine Buth (NDR)

Stand: 29.07.2015 12:24 Uhr

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