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Fliegen – echt schwer zu kriegen!

Schneller als der Mensch

Eine Fliege fliegt gerade von Apfel weg
Kaum haben wir die Hand erhoben, um die Fliege zu erwischen - da fliegt sie auch schon davon! | Bild: NDR

Haben Sie schon mal versucht, eine Fliege mit der Hand zu fangen? Es ist fast unmöglich. Egal ob man sich von hinten anschleicht oder besonders überraschend zuschlägt: Die Fliege ist meist schneller. Der Grund dafür ist, dass das Fliegengehirn dem des Menschen überlegen ist – zumindest in einem Punkt: Fliegen reagieren wesentlich schneller als Menschen. Und das, obwohl das Gehirn einer gewöhnlichen Stubenfliege nicht einmal ein halbes Milligramm wiegt.

Fliegen-Forschung

Fliege sitzt auf Tisch
Die Fliege hat einen eingebauten Rundumblick: Sie sieht auch, was hinter ihr passiert. | Bild: NDR

Was macht die Brummer zu so unglaublich schnellen "Blitzmerkern"? Das untersuchen die Neurobiologen vom Max-Planck Institut in Martinsried bei München. In zwei fest verschlossenen Räumen werden hier Fliegen herangezogen, um ihr Verhalten zu studieren. Professor Alexander Borst beschäftigt sich schon sehr lange mit den geflügelten Ausweichkünstlern. Ein Grund für ihre schnellen Reaktionen sind die Facettenaugen der Fliege: Sie sind kugelförmig und sorgen dafür, dass die Fliege mehr sieht als der Mensch. "Wir haben ein begrenztes Gesichtsfeld", erklärt Alexander Borst. "Wenn wir rundum gucken wollen, müssen wir die Augen oder den Kopf bewegen. Die Fliege braucht das alles nicht, die hat sozusagen eingebauten Rundumblick." Dieser Rundumblick verhindert, dass sich der Mensch von hinten anschleichen kann – die Fliege sieht alles.

Das Fliegenhirn ist ganz schön fix

Animation von Synapsen im Fliegenhirn
Es gibt nur wenige Schaltstellen im Fliegenhirn - die Information kommt besonders schnell von A nach B. | Bild: NDR

Der Rundumblick ist nicht der einzige Vorteil, den die Fliege gegenüber dem Menschen hat. Ihre Lichtsinneszellen reagieren viel schneller auf Lichtveränderungen als unsere – der Schatten einer zum Schlag erhobenen Hand wird deshalb blitzschnell wahrgenommen. Das ist möglich, weil das Gehirn der Fliege sehr einfach aufgebaut ist: Zwischen Augen und Muskeln liegen gerade einmal fünf Synapsen – das sind die Schaltstellen im Gehirn, an denen die Reizleitung kurz gebremst wird, weil das Signal umgewandelt werden muss. Und auch die Wege im Fliegengehirn sind kurz: Die Signale müssen vom Auge zur Muskulatur nur wenige Millimeter reisen, anders als beim Menschen...

All das macht das Fliegengehirn besonders fix. Im direkten Vergleich ist der Mensch chancenlos, sagt Alexander Borst: "Zu dem Zeitpunkt, wo die Fliege schon reagiert hat, schon ein erstes Muskelzucken zeigt, also schon am Abheben ist – da hat das Signal meinen Augapfel noch gar nicht Richtung Gehirn verlassen!"

Die Welt in Zeitlupe

Mann guckt ungäubig in seine Handflächen
Wieder nicht erwischt! Die Fliege sieht die nach ihr schlagenden Hände des Menschen wie in Zeitlupe. | Bild: NDR

Weil das Menschengehirn Bewegungen so langsam verarbeitet, unterscheidet es nur etwa 20 Einzelbilder pro Sekunde. Werden mehr Bilder gezeigt, verwischen sie zu fließenden Bewegungen – mit diesem Effekt arbeitet das Fernsehen. Würde eine Fliege Fernsehen gucken, würde sie keinen Film sehen, sondern einzelne Fotos, die sehr lange stehen, bevor das nächste Foto gezeigt wird. Die Fliege kann nämlich sehr viel mehr Bilder pro Sekunde wahrnehmen als der Mensch: etwa 200 Stück.

Bewegungen erscheinen der Fliege deshalb viel langsamer als dem Menschen, sie sieht unsere Welt etwa so wie wir eine starke Zeitlupe. Kein Wunder also, dass der Fliege reichlich Zeit bleibt, der schlagenden Hand auszuweichen – der Angriff muss ihr sehr langsam erscheinen!

Durchbruch in der Gehirnforschung

Fliege in Versuchsapparatur
Das "Fliegenkino": Man gaukelt ihr vor, sie würde in eine bestimmte Richtung fliegen. | Bild: NDR

Fliehen? Ja oder nein? Und wenn ja: in welche Richtung? Für Fliegen wahrscheinlich die wichtigsten Entscheidungen im Leben. Deshalb nutzen sie mehr als die Hälfte ihrer Nervenzellen nur für das Bewegungssehen. Dabei ist jede Nervenzelle nur für eine einzige Bewegungsrichtung verantwortlich: Für horizontale oder vertikale Bewegungen, nach links oder rechts. Um herauszufinden, wann die Zellen aktiv sind, klebt Doktorandin Isabella Kauer Stubenfliegen vor eine mit LED-Lichtern beleuchtete Wand, das sogenannte "Fliegenkino". Über die Wand pulsieren helle und dunkle Lichter und geben der Fliege das Gefühl, dass sie sich fortbewegt. Isabella Kauer spielt der Fliege verschiedene Bewegungsrichtungen vor und misst dabei mit einer winzigen Elektrode die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn der Fliege. Lautes Knattern und starke Ausschläge zeigen an, dass die Zelle aktiv ist.

Stück für Stück erarbeiten die Neurobiologen so eine genaue Karte des Fliegenhirns. "Das wäre das erste Mal, dass wir eine einfache neuronale Berechnung oder Informationsverarbeitung im Detail verstehen können – auf der Ebene von einzelnen Nervenzellen und deren Verschaltung. Das wäre ein wesentlicher Durchbruch in der Gehirnforschung", erklärt Alexander Borst vom Max-Planck-Institut.

Fliege aus Metall

Mann mit Quadrokopter, der vor ihm in der Luft steht
Alexander Borst mit einer "Roboter-fliege": Die Schaltungen funktionieren wie bei einer Fliege. | Bild: NDR

Dass ein so einfach strukturiertes Gehirn wie das der Fliege so effektiv arbeitet, fasziniert Neurobiologen schon seit mehr als 50 Jahren. So lange versuchen Wissenschaftler bereits herauszufinden, welche Nervenzellen welche Aufgaben übernehmen. Die Erkenntnisse haben einen klaren praktischen Nutzen. Denn wenn die Wissenschaftler herausfinden, wie genau das Gehirn einer Fliege verschaltet ist, können sie diese Schaltung nachbauen und zum Beispiel für Roboter verwenden.

In Martinsried gibt es bereits einige Roboterfliegen, deren Schaltungen dem Gehirn der Fliege nachempfunden sind. Noch muss ihr Erbauer Johannes Plett die Fliegen allerdings mit der Fernbedienung lenken. Schon bald aber sollen die Flugroboter ihre Route selbst planen und Hindernisse automatisch umfliegen können. Ganz so wie ihr Vorbild – die Fliege.

Autorin: Christine Buth (NDR)

Stand: 04.11.2015 14:25 Uhr

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