Tatort Ostdeutschland – 50 Jahre Ermittlungen im Polizeiruf 110

von Knut Elstermann, Filmjournalist

Szene aus dem ersten Polizeiruf 110: Der Fall Lisa Murnau
Der erste Polizeiruf vom 27. Juni 1971: "Der Fall Lisa Murnau". V.l.n.r.: Leutnant Vera Arndt (Sigrid Göhler), Harry Wolter (Ingolf Gorges), Oberleutnant Peter Fuchs (Peter Borgelt) | Bild: MDR/DFF

Es gehört zu den Denkwürdigkeiten der seit 30 Jahren vereinigten deutschen Medienlandschaft, dass ausgerechnet zwei Institutionen des DDR-Fernsehens überlebt haben, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Das freundliche Sandmännchen und die Krimireihe "Polizeiruf 110", also abendliche Beruhigung für die Kinder und spannende Unterhaltung für die Erwachsenen. Der "Polizeiruf 110", vor 50 Jahren als Antwort auf den westlichen "Tatort" gegründet, vereinte in der DDR Familien und Freunde vor dem Fernseher, er schuf eine Fan-Gemeinde, zu der auch ich gehörte, und wurde am nächsten Morgen diskutiert. Dabei hatte er immer – wie auch die Kriminalliteratur im Lande – mit einem Paradoxon zu kämpfen. Wie kann man von Verbrechen, von Tätern und Opfern in einem System erzählen, das doch die sozialen Wurzeln der Kriminalität ausgerissen hatte? In der entwickelten sozialistischen Gesellschaft sollten Untaten irgendwann von selbst verschwinden oder doch nur noch als Ausnahmen, als Bestätigung der Regel vorkommen.

So ging es in den Filmen sehr selten um Kapitalverbrechen. Häufiger als Mord und Totschlag kamen Diebstahl und Betrugsdelikte vor die Kamera, Alkoholmissbrauch, Sexualdelikte und Jugendkriminalität. Aber genau diese Einschränkung machte die Stärke des "Polizeiruf 110" aus. Er konstruierte keine reißerischen, raffinierten Fälle und konnte nicht mit abgründigen, schillernden Helden der Unterwelt punkten, mit schlagkräftigen Banden und schon gar nicht mit wilden Schießereien und Auto-Jagden. Aber er sah genau hin, zeigte ungeschönt den Alltag einer unvollkommenen Gesellschaft. Die Zuschauer-Innen erkannten sich und ihre Wirklichkeit in diesen Filmen wieder, die keine propagandistischen Wunschvorstellungen präsentierten, sondern reale Widersprüche.

Cooky Ziesche, die heute im rbb die Abteilung Film leitet, arbeitete damals im DDR-Fernsehen in der Redaktion für Gegenwartsfilme. Oft sah sie mit Neid zu den KollegInnen vom "Polizeiruf 110" hinüber, wie sie mir erzählte. "Dort wurden Geschichten erzählt und Konflikte entwickelt, die bei uns nie durchgekommen wären. Je erfolgreicher die Reihe wurde, desto mehr konnte man auch wagen." Im Gewand des Kriminalfilms, im Schutz des Genres war Vieles möglich. Bis zum Ende der DDR entstanden fast 150 Filme. Bei den Abnahmen der "Polizeiruf"-Folgen redete auch das Ministerium des Innern mit, dem die Volkspolizei unterstand. Fachberater waren beim Dreh dabei, was Regisseur Hans-Werner Honert, der eine ganze Reihe von "Polizeiruf"-Filmen schrieb und inszenierte, keineswegs als Nachteil empfand. "Die Leute vom Ministerium kannten die Realität viel besser als die Parteifunktionäre, mit ihnen konnte man gut arbeiten, und nur selten gab es Schwierigkeiten", erinnert er sich. Probleme tauchten manchmal an unerwarteter Stelle auf und erscheinen heute etwas kurios. So sucht Leutnant Grawe, gespielt von Andreas Schmidt-Schaller, im "Polizeiruf 110: Zwei Schwestern" verzweifelt Fahrradventile, die er nirgends kaufen kann. Die betreffenden Sätze mussten wieder raus, denn die DDR-Bevölkerung sollte nicht noch auf Mangelware hingewiesen werden.

Oft basierten die Stoffe auf realen Fällen. Für seinen Film "Der Selbstbetrug" von 1983 ließ sich Honert von einer Zeitungsmeldung anregen. Ein Vater kann die Wahrheit über den Selbstmord seines Sohnes nicht ertragen; er sucht nach einem vermeintlichen Täter. Honerts "Traum des Vergessens" von 1985 zeigte, wie offen die Form des "Polizeiruf 110" in den besten Fällen sein konnte. Es ist eine große Tragödie von antiker Wucht über zwei Paare, Ehebruch, tiefe Schmerzen und Verletzungen und den schrecklichen Tod eines kleinen Kindes. Honert recherchierte in den Akten des wahren Falls, für dessen Aufklärung im Leben wie im Film ein Polizeipsychologe herangezogen wurde. Das eindringliche Werk erhielt das Prädikat "Besonders wertvoll".

Natürlich hatte nicht jede Folge diese künstlerische Qualität; wie bei allen Reihen gab es auch hier durchschnittliche, schnell vergängliche Ware. Manchmal erzeugte das Fehlen von kapitalen Verbrechen auch ein unfreiwillig komisches Ungleichgewicht zwischen der intensiven Ermittlungsarbeit und der Geringfügigkeit der Delikte. Aber einige "Polizeiruf"-Folgen haben sich für immer in die Erinnerung der ZuschauerInnen eingebrannt und sind längst Klassiker. Zwei überragende Filme entstanden 1988, vielleicht war es das "Goldene Jahr" des "Polizeiruf 110", kurz vor dem Ende der DDR. In "Der Mann im Baum" von Manfred Mosblech spielte der sonst oft kumpelhaftfröhliche Günter Schubert einen Vergewaltiger, der seine Opfer in den Zweigen sitzend ausspäht – ein unvergessliches, bedrohliches Bild. "Der Kreuzworträtselfall" von Thomas Jacob schilderte ungewöhnlich akribisch und sehr packend die aufwendige Suche nach einem Triebtäter, eine kriminalistische Puzzle arbeit, bei der auch in Wirklichkeit Tausende Schriftproben auf gelösten Kreuzworträtseln überprüft wurden. Es war einer der beklemmendsten und erfolgreichsten Filme in der langen "Polizeiruf 110"-Geschichte.

Der erste "Polizeiruf 110" wurde am 27. Juni 1971 ausgestrahlt, "Der Fall Lisa Murnau". Eine Postangestellte, gespielt von Petra Hinze, wird im Nachtdienst niedergeschlagen, aus dem Tresor sind 70.000 Mark verschwunden. Peter Fuchs und Vera Arndt, gespielt von Peter Borgelt und Sigrid Göhler, übernahmen die Ermittlungen; mit größter Selbstverständlichkeit war von Anfang an eine Frau im Team, anders übrigens als im "Tatort". Dort trat erst 1978 mit Nicole Heesters die erste Kommissarin ihren Dienst an. In der DDR waren fast alle Frauen berufstätig, eine Frau Kommissarin erschien hier niemandem als etwas Besonderes.

Anders als im "Tatort" aber blieb beim "Polizeiruf 110" völlig unklar, was die Beamten nach Dienstschluss taten; ein Privatleben war nicht vorgesehen. Im Mittelpunkt standen immer die Persönlichkeiten der Opfer und der Verdächtigen. Die KriminalistInnen bewegten sich nur im Spielraum ihrer Ermittlungen. Claudia Michelsen, heute eine sensible "Polizeiruf"-Kommissarin in Magdeburg, mochte damals diese absolute Konzentration auf den Fall, bei dem die Ermittelnden Transporthelfer für die Krimihandlung und nicht das Thema sind, wie sie mir verriet. Die Zusammensetzung der Teams wechselte nach keinem erkennbaren Prinzip und die KommissarInnen ermittelten von Rügen bis nach Sachsen, als seien sie für die ganze Republik zuständig, was in der polizeilichen Wirklichkeit natürlich nie der Fall war.

Das Fehlen des biografischen Hinterlandes machten die charismatischen VollblutschauspielerInnen so vollkommen wett, dass man den Mangel kaum bemerkte. Beliebte und ausdrucksstarke DarstellerInnen wie Jürgen Frohriep, Günter Naumann, Jürgen Zartmann, Andreas Schmidt-Schaller, Lutz Riemann und Sigrid Göhler, die in 46 Folgen dabei war, und Friedhelm Eberle gaben ihren Figuren im Rahmen der Polizeiarbeit unverwechselbare Konturen. Zur Symbolfigur der ganzen Reihe wurde der unvergessene Peter Borgelt, seit 1967 Ensemblemitglied des Deutschen Theaters in Berlin. Als Kriminalhauptkommissar Peter Fuchs spielte er von 1971 bis 1991 in 84 "Polizeiruf"-Folgen. Mit seinem Trenchcoat, seinem sehr menschlichen, nie auftrumpfenden Spiel, mit seiner Natürlichkeit und Beiläufigkeit wurde er zu einem der ganz großen Fernsehstars der DDR, obwohl sich der 1994 gestorbene Schauspieler ganz sicher nie so bezeichnet hätte

Für Charly Hübner, heute herrlich kantiger Ermittler im Rostocker "Polizeiruf 110", ist Borgelt ein minimalistisch spielender Typ wie Lino Ventura und zugleich ein "ganz typischer, ganz normaler DDR-Mann". Oft wurde er sehr treffend mit Maigret verglichen, beide ermitteln nicht mit ausgeklügelten Methoden und genialen Einfällen, sondern mit dem feinen Gespür des Menschenkenners. Charly Hübner, den die Krimis in der DDR nicht sonderlich interessiert hatten, sah sich zur Vorbereitung seines eigenen Dienstantritts im "Polizeiruf 110" alte Folgen an, die im MDR und rbb auf festen Sendeplätzen wiederholt werden. Er entdeckte darin plötzlich eine bleibende Qualität: "Dieses direkte Reingehen in die Fälle, ganz unmittelbar, dokumentarisch, ohne erzählerische Umschweife. Das hatte fast etwas Amerikanisches."

Mit dem Ende der DDR und ihres Fernsehens schien auch das Aus für den "Polizeiruf 110" gekommen zu sein. Doch der NDR, die neu gegründeten Anstalten MDR und der ORB, in Kooperation mit dem SFB, traten nach einer Pause von über einem Jahr das Erbe an. Sie belebten die Traditionen auch mit neuen ErmittlerInnen. Kurt Böwe und Uwe Steimle in Schwerin, Wolfgang Winkler und Jaecki Schwarz in Halle luden mit ihrer Vergangenheit besonders die Menschen aus der DDR zur Identifikation und die Zuschauer im Westen zu neuen Blicken auf den Alltag im Osten ein. In Brandenburg spielten die profilierten Darstellerinnen Katrin Sass, Jutta Hoffmann, Imogen Kogge und Maria Simon – mit Lucas Gregorowicz als Partner – unverwechselbare Kommissarinnen. Ihnen allen dient pflichtbewusst der Dorfpolizist Horst Krause, der eine sehr volkstümliche Brandenburger Institution wurde wie der Alte Fritz oder Fontane. Diese "Polizeiruf"-Folgen spielen vor allem im ländlichen Raum, etwa in der deutsch-polnischen Grenzregion, die sie sozial genau erkunden. Auch dies ist eine alte Tradition, der "Polizeiruf 110" war nie so urban wie der "Tatort".

Inzwischen gehören für mich eigensinnige, charaktervolle KommissarInnen aus dem Westen, wie sie Edgar Selge, Matthias Brandt und Barbara Auer spielten, ganz selbstverständlich zum großen Ensemble der "Polizeiruf 110"-ErmittlerInnen, und längst dürfen die SchauspielerInnen ihren Figuren auch ein privates Leben außerhalb der Dienstpläne schenken. Wie lebendig die sozialkritische "Polizeiruf"-Tradition noch ist, zeigen auch die Rostocker "Polizeiruf"-Folgen mit Charly Hübner und Anneke Kim Sarnau. Sie sind zur großen Serie über den heutigen Zustand des Landes geworden und setzen Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West filmisch in intensive Beziehungen. Heute scheinen die Grenzen zwischen dem "Polizeiruf 110" und dem "Tatort" fließend geworden zu sein, die Unterschiede sind nicht mehr so deutlich wie früher, was im Grunde nur folgerichtig ist. Warum sollten die beiden Krimi-Institutionen des deutschen Fernsehens nicht nach 30 Jahren des nachbarschaftlichen Zusammenlebens mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben?

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